Der Autor

Prof. Dr. Siegfried Weichlein lehrt Europäische und Schweizerische Zeitgeschichte an der Universität Fribourg/Schweiz.

Was trennt und was verbindet uns?

Von Zwischen- und Grenzräumen

Mit Blick auf die Grenzregionen in Euopa offenbart sich ­ eine Reihe von Konflikträumen, in denen die bestehende Grenzziehung in Zweifel gezogen wird.

Nationale Zwischenräume, doppelte oder geteilte Loyalitäten und Irredenta sind im 21. Jahrhundert wieder ein brandgefährliches Thema. Sie werden immer wieder als Grund dafür angeführt, gewaltsam Grenzen verändern zu dürfen. Die bekanntesten und aktuellsten Beispiele sind die Halbinsel Krim und die Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk in der Ukrai­ne, die von Russland als Irredenta angesehen und per Parlamentsbeschluss in die Russische Föderation einverleibt wurden. Irredentismus und Annexion stehen im Zentrum der imperialen Politik Wladimir Putins. Das russische Kriegsnarrativ bestreitet eine eigene Identität der Ukraine und erklärt sie zum irregulären Zwischenraum, der von fremden Mächten beherrscht wird. Auf dem Balkan gibt es weitere irredentistische Bewegungen, die für ein Großserbien, Großungarn oder Großalbanien eintreten. Irredenta ist ein politischer Kampfbegriff, der einen gegenwärtigen Zustand der Trennung durch Anschluss an einen Titularnationalstaat ändern will und dadurch die „terre irredente“ („unbefreites Land“) befreien und „erlösen“ möchte. Daraus ergeben sich historisch gesehen mehrere Fragen: Nationalismusgeschichtlich setzen Irredenta die Vorstellung voraus, dass Nationszugehörigkeit und Staatszugehörigkeit identisch sind, alle Nationszugehörigen also in einen Staat gehören. Diese Vorstellung ist mitnichten selbstverständlich. Das Aufkommen von Irredenta und Grenzräumen soll im Folgenden in einem ersten Schritt historisch eingeordnet werden. In einem zweiten Schritt geht es um das Politisieren mit Irredenta und Grenzräumen. Mehrere Formen der Politisierung werden unterschieden, darunter Widerstand, Autonomie und die Neukonfiguration der Grenzräume nach 1945. Dabei geht es immer um beide Richtungen: sowohl um die Irredentisten als auch um ihre Gegner. Mobilisierung führte zu Gegenmobilisierung. Dem Anspruch auf die Irredenta antwortete eine Politik, die Grenzen stärkte und Eindeutigkeit gegenüber Mischräumen aufwertete.

Seit wann gibt es Irredenta und Grenzräume?

Auch wenn der Begriff Irredenta aus dem italienischen Risorgimento nach 1861 stammt, so war die Sache doch älter. In mindestens zwei Hinsichten prägte die Vorstellung der Irredenta die Geschichte des Nationalismus. Die Besetzungen während der napoleonischen Kriege ließen erstens Nationalbewegungen entstehen, die sich dem Kampf gegen die französische Fremdherrschaft verschrieben. Der Kampf gegen einen Besatzer hatte damit erstmals ein nationales Vorzeichen. Nach dem Ende Napoleons wurden Befreiungskämpfe an vielen Orten nach dem gleichen Muster geführt. Die Irredenta-Situation war damit konfiguriert: Das eigene Volk wird von einer fremden Macht daran gehindert, seine nationale Selbstbestimmung auszuüben. Dieses Muster war leicht auf neue Situationen zu übertragen. In Italien forderten Vertreter des Risorgimento nach 1861 die Rückkehr der Irredenta Triest, Trentino, Görz, Istrien, Fiume und Dalmatien, die zu Österreich gehörten, zu Italien. In Frankreich richtete sich der Irredentismus nach 1871 gegen Deutschland und dessen Annexion Elsass-Lothringens. Jedes Schulkind sah diese „unerlösten Gebiete“ auf einer Landkarte im Schulzimmer. Österreicher und Deutsche wiederum forderten nach 1918 Südtirol zurück, das Italien zugeschlagen worden war. Der Kampf gegen die Besetzung von Gebieten mit eigenen Nationszugehörigen bildete eine treibende Kraft in der Geschichte des Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Ein besonders markanter Fall waren die Sudetendeutschen. Die Nationalsozialisten forderten den Anschluss des deutschsprachigen Sudetenlandes an das Reich, kräftig unterstützt von Konrad Henlein, dem Vorsitzenden der Sudetendeutschen Partei und späteren Gauleiter des „Sudetengaus“. Nach 1945 schlug die enge Verbindung der sogenannten „Henlein-Deutschen“ mit dem Reich auf die Sudetendeutschen zurück. Sie wurden aus der Tschechoslowakei vertrieben. Irredenta stellten zweitens den Rand ins Zentrum einer nationalen Erzählung. Sie machten Grenzräume zu nationalen Themen. Ob es sich um Elsässer und Frankreich, um Südtiroler und Österreich beziehungsweise Deutschland oder um Triest und Italien handelte, immer waren Irredenta am Rand einer nationalen Gruppe angesiedelt. Dennoch behandelten Nationalisten diese Grenzräume so, als stünde mit ihnen im Kern das Schicksal einer ganzen Nation auf dem Spiel. Das erklärt die Heftigkeit der Auseinandersetzungen um nationale Zwischenräume und Grenzen. Narrativ rückten die Nationalisten den Rand in den Mittelpunkt ihrer Erzählung. 

Irredenta waren ethnisierte Raummythen über die Ursprünge eines Volkes in der Konfrontation mit den Nachbarn. In den nationalen Ursprungserzählungen spielten die Ränder eine prominente Rolle. Die Bedeutung der Sachsen für den deutschen Nationalismus hing eng mit ihrem Kampf gegen die Slaven im frühen Mittelalter zusammen. Ähnliches galt für die Schleswiger im Norden und die Bayern im Süden. Jedes Mal dramatisierten ethnische Polarisierungen die Ränder. Für Nationalisten aller Länder entschied sich in den Grenzregionen die nationale Geschichte. Hier ging es um das „Schicksal“ einer ganzen Nation. Raummythen brachten Raum und Nation in dem Maße zur Deckung, indem sie den nationalen Ursprung an einen territorialisierten existentiellen Konflikt knüpften. Darin unterschieden sie sich von den Abstammungsmythen, die den Ursprung eines Volkes aus der Abstammung zumeist des Herrschers ableiteten. Prominente Ur-Väter waren die Troianer, auf die sich die französischen Kapetinger, aber auch viele andere Monarchen zurückführten. Das Grenzland stellte eine Mischregion und gleichzeitig eine Übergangszone dar. Der Nationalismus produzierte vorgestellte Räume und Grenzen im Kopf, was Ansprüche auf Land und Leute begründete. In den Grenz- und Mischregionen verschärfte die Frage der Staatsangehörigkeit die nationalen Gegensätze, was im Elsass, den preußischen Ostprovinzen oder in Österreich-Ungarn immer wieder der Fall war. Was für den einen noch unerlöst war und der natio­nalen Befreiung harrte, war für den anderen eine zu verteidigende Grenzregion. Dabei wurden Argumente gerne so gewählt, wie sie ins eigene Kalkül passten. Wer Elsass und Lothringen beim Deutschen Reich halten wollte, führte gerne deren kulturelle und sprachliche Nähe zu Deutschland an, wer die polnischen Gebiete im Osten als deutsch ansah, verwies auf ihre lange staatliche Zugehörigkeit zu Preußen. Die französische wie auch die polnische Nationalbewegung sah das natürlich genau umgekehrt. Des einen Irredenta waren des anderen Grenzregionen.

Die Politik der Grenzräume

Die politischen Handlungsmuster im Blick auf Zwischenräume werden deutlich an den drei Beispielen Elsass-Lothringen, Polen und Südtirol. Gleichzeitig treten die Unterschiede hervor. Grenzland war nicht gleich Grenzland, „Irredenta“ nicht gleich „Irredenta“. Die Elsässer wechselten in 75 Jahren vier Mal ihre Staatszugehörigkeit. 1870 annektierte das Deutsche Reich nach dem Deutsch-französischen Krieg Elsass-Lothringen, bei Kriegsende 1918 ging es wieder an Frankreich. Mit dem Einmarsch der Wehrmacht 1940 wurde Elsass-Lothringen wieder deutsch und 1945 schließlich endgültig französisch. Für viele Elsässer und Lothringer war die Zugehörigkeit zu Deutschland oder zu Frankreich daher lange Zeit prekär. Polen verlor 1795 seine Staatlichkeit, gewann sie erst 1918 wieder und wurde 1945 nach Westen verschoben. Südtirol entwickelte einen starken regionalen Eigensinn gegenüber Wien vor 1914 und kam 1918 zu Italien. Alle drei Regionen zeigten typische Kennzeichen der Loyalitätskämpfe in Zwischenräumen, vor allem Widerstand, Partizipation, Autonomie und Neukonfigurierung nach 1945. 

Widerstand

Das erste Handlungsmuster in Zwischenräumen war der Widerstand gegenüber der Politik der natio­nalen Assimilation durch die eine oder die andere Seite. Nach der Annexion durch das Deutsche Reich optierten etwa 50.000 Elsässer für Frankreich und verließen das Elsass. Im Reichsland Elsass-Lothringen, das direkt der Reichsregierung unterstellt war und keinen eigenen Bundesstaat im Deutschen Reich bildete, machten sich schon bald Oppositionsgeist und Widerstand bemerkbar. Ein Ausgangspunkt dafür war die konfessionelle Spannung zwischen den mehrheitlich katholischen Elsässern und der preußisch-protestantischen Reichsführung. Nachdem Elsass-Lothringen 1911 eine Verfassung erhalten hatte, insistierte das preußische Militär mit steigender Kriegsgefahr auf nationaler Eindeutigkeit, was die Elässer überhaupt nicht goutierten. Die Zabern-Affäre von 1913 wegen eines Schimpfwortes war noch geradezu harmlos gegenüber den Maßnahmen nach Kriegsbeginn 1914. Mit eiserner Hand unterdrückte das deutsche Militär regionalen Eigensinn und verbot französische Vereine und Zeitungen. Der Gebrauch der französischen Sprache und selbst von Ausdrücken wie Adié, Appetit oder Trottoir galt als strafbar. Entsprechend distanzierten sich die Elsässer und Lothringer von der deutschen Führung. 1918 begrüßten sie zwar die einrückenden Franzosen. In dem Maße, in dem jedoch die französische Assimilationspolitik Raum griff, wich die Erleichterung dem erneuten Widerstand gegen die sprachliche Assimilation. Ähnlich reagierte die polnische Bevölkerung auf die Germanisierungspolitik der preußischen Regierung nach 1871. Die Gegenreaktion mobilisierte ungemein und formte das polnische Nationalbewusstsein. Zur Abwehr bildeten sich Vereine und Zeitungen und eine eigene polnische Kommunikationsgemeinschaft entstand. Vor 1772, also vor den polnischen Teilungen, konnte die Antwort auf die Frage, wer man sei, noch lauten: „Canonicus cracoviensis, natione Polonus, gente Ruthenus, origine Judaeus“ (Krakauer Kanonikus, polnischer Nation, gebürtiger Ruthene, jüdischer Herkunft). Religion, Nationalität und Sprache waren hier mitnichten deckungsgleich. 120 Jahre später dagegen war nur derjenige Pole, der polnisch sprach und katholisch war. Der Zwischenraum, der zwischen 1795 und 1918 auch kein Staat war, hatte sich in der Selbstbeschreibung national vereindeutigt. Die trennende Kraft der Sprache und sprachlicher Regulierungen zeigte sich zumal im cisleithanischen eichsteil Österreich-Ungarns vor 1914. In Budweis, wo traditionell Deutsche und Tschechen gut mitein­ander auskamen, wurden jetzt „Budweisers into Czechs and Germans“, wie der Titel eines Buches von Jeremy King es auf den Punkt bringt. Dissoziation war auch ansonsten ein Kennzeichen von Mischgebieten. 1882 teilte sich die 500 Jahre alte Karls Universität in Prag wegen der starken Nationalitätenkonflikte in eine deutsche und in eine neue tschechische Universität. Der Rektor der deutschen Universität weigerte sich nach 1918, die uralten Amtsinsignien herauszugeben. Die deutsche Karl-Ferdinands-Universität bestand bis 1945. Auch in Siebenbürgen, das die Sieger im Friedensvertrag von Trianon 1920 Rumänien zusprachen, kam es zur Dissoziation zwischen Rumänen und Ungarn. Die ungarische Minderheit opponierte nach 1918 lautstark gegen die Assimilationspolitik der Regierung in Bukarest.

Partizipation und Emanzipation

Die politische Vertretung dieser Zwischenräume, sei es im Elsass, in den polnischen Gebieten oder in Österreich-Ungarn, schwankte zwischen Partizipation durch Parteibildung und Emanzipation durch Autonomieforderung. Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn gaben den Minderheiten die Möglichkeit zur Partizipation im Parlament und in der lokalen Selbstverwaltung. Die nationalen Minderheiten im Kaiserreich bildeten ihre Parteien. Es gab französische und polnische Abgeordnete und solche der dänischen Minderheit in Schleswig. Diese Form der politischen Integration zeigte Wirkung. Die Polnisch sprechenden Masuren traten selbstbwusst als Polen und Preußen auf. Nirgendwo sonst in Europa hat sich eine sprachliche Gruppe so lange mit einer anderssprachigen Nation identifiziert. In der Volksabstimmung am 11. Juli 1920 entschieden sich die Masuren für den Verbleib bei Ostpreußen. Noch heute gilt für den Südschleswigschen Wählerverbund (SSW) in Schleswig-Holstein ein besonderes Wahlrecht, das der dänischen Minderheit die Vertretung im Landesparlament ermöglicht. In Brandenburg gilt dies für die sorbische Minderheit. Dieses Wahlrecht mit niedrigerer Sperrklausel ermöglicht Zwischenräume und Anpassungen. Proporzregelungen wie in Südtirol für die Vertreter der ladinischen Minderheit im Landtag und in der Regierung wirken in die gleiche Richtung. Doch stand die Parteibildung der nationalen Minderheiten im Kaiserreich und in Österreich-Ungarn einem nationalen Parteiensystem entlang von Liberalismus, Konservatismus, politischem Katholizismus und Sozialismus im Wege. Regionale Parteien kamen in modernen demokratischen Nationalstaaten zwar immer wieder vor, sie erhoben jedoch keinen nationalen Anspruch wie die anderen Parteien, sondern waren Interessenvertretungen. Bezeichnenderweise nahm Bismarck genau die Nähe der Zentrumspartei zu den katholischen polnischen Abgeordneten zum rhetorischen Anlass für den Kulturkampf. Der kaum verhüllte Vorwurf Bismarcks lautete: Sezession und Abspaltung vom Reich. Daher rührte die Bezeichnung „Reichsfeinde“ für die Katholiken.

Autonomie

Für Minderheiten wurde die kulturelle und politische Autonomie bereits im 19. Jahrhundert attraktiv. Die regionalen Autonomiebewegungen schwankten zwischen Sezession und der Forderung nach kultureller Selbstbestimmung. Das war besonders in Osteuropa der Fall, wo nach dem Ende des Zarenreiches, des Habsburger Reiches und des Osmanenreiches die übergreifenden Klammern weggefallen waren und nationale Selbstbestimmung zur politischen Leitlinie wurde. Die Politik der nationalen Selbstbestimmung nach 1918 machte aus den Autonomiebewegungen Nationalstaaten. Es entstanden Polen und die drei baltischen Staaten, die kurzlebige selbstständige Ukraine, die Tschechoslowakei, Jugoslawien und die moderne Türkei. Ungarn und Rumänien verloren beziehungsweise gewannen große Gebiete. Doch besaßen diese Nationalstaaten jetzt Minderheiten, die nach dem demokratischen Mehrheitsprinzip durch die nationale Mehrheit marginalisiert wurden. Auch der Minderheitenschutz durch den Völkerbund vermochte hier nicht viel auszurichten. Was sich bereits vor 1914 abzeichnete, wurde jetzt zur gängigen Politik: Nationale Selbstbestimmung setzte auf nationale Homogenität, was Vertreibungen, Bevölkerungsaustausch und ethnische Säuberungen legitimierte. Von millionenfachem Leid begleitet tauschten die Türkei und Griechenland 1923/24 ihre griechischen beziehungsweise türkischen Bevölkerungen aus. Izmir wurde zur rein türkischen und Thessaloniki zur rein griechischen Stadt, was beide historisch nie gewesen waren. Das alles im Namen der nationalen Selbstbestimmung, die US-Präsident Woodrow Wilson in seinen 14 Punkten vom Januar 1918 als Kriegsziel benannt hatte. Sein Außenminister Robert Lansing teilte Wilsons liberalen Enthusiasmus für die Selbstbestimmung nicht und prophezeite bereits während der Friedensverhandlungen in Versailles, dieses hehre Prinzip werde Ströme von Blut fließen lassen. In seinen Erinnerungen hielt er 1921 fest: „Das ganze Wort ,Selbstbestimmung‘ ist mit Dynamit bis zum Rande geladen. Es wird Hoffnungen erwecken, die sich nimmer erfüllen lassen. Ich fürchte, daß es tausende und abertausende Leben kosten wird.“ Die verbliebenen Regional- und Autonomiebewegungen hatten einen schweren Stand. Den etablierten Partizipations- und Gleichheitsversprechen der Nationalstaaten konnten sie kaum widersprechen. Waren Nationalstaaten über Militär, Steuerapparat und Schulen, Eisenbahn, Telegraphie, Post und frühe Formen des Wohlfahrtsstaates erst einmal strukturell gefestigt und zur sozialen Tatsache geworden, blieb den Regionalismen nur übrig, die gleichen Mittel in anderer Absicht zu verwenden. Nur wenige Autonomiebewegungen versuchten diesem Dilemma durch neue Ziele zu entkommen. Dazu gehörte der elsässische Regionalismus der Zwischenkriegszeit, der sich als Kernland Europas und als elsässisch-europäisch charakterisierte. 

Kulturboden- und Grenzlandarbeit

Die Regional- und Autonomiebewegungen lösten zumal im deutschen Raum massive Gegenreaktionen aus. Nach 1918 verschärfte sich nicht nur der Nationalismus, sondern es rückten auch neue Begriffe ins Zentrum der nationalistischen Propaganda: Grenzland, Grenzlandarbeit, Volkstum und Volkstums­arbeit. Zwischenräume und Übergänge waren dieser Semantik fremd. Die schärfsten Gegner jeder Form von regionaler und kultureller Autonomie fanden sich in der deutschen Heimatbewegung und bei den „Grenzlandarbeitern“. Die nationale Gemeinschaft sollte gegen Verlusterfahrungen und Gebietsabtretungen wie nach 1918 gewappnet werden. Theorien vom nationalen Kulturraum und von nationaler Heimat standen in hohem Kurs. Seine Heimat in der Grenzregion zu haben, bedeutete, für das gesamte deutsche Volk einzustehen. Das ging einher mit der aggressiven Rede von Abwehr, Verteidigung und „Überlebenskampf“. Ein neuer Forschungszweig beschäftigte sich mit den Grenzländern in der Absicht, sie begrifflich eindeutig Deutschland zuzuordnen. In den 1920er Jahren entwickelten Geografen wie Albrecht Penck und Wilhelm Volz die Kulturbodentheorie. Dieses widersprüchliche Gebräu von Argumenten verfolgte die Absicht, überall in Osteuropa, wo objektive Faktoren wie Sprache oder Abstammung einem Anschluss an das Deutsche Reich entgegenstanden, den deutschen Revisionsanspruch mit einer subjektiven Definition von Nationalität zu begründen. Das traf vor allem auf gemischethnische Gebiete im Osten des Reiches zu wie das ostpreußische Ermland, das nordöstliche Ostpreußen, Hinterpommern, die Ober- und die Niederlausitz sowie Oberschlesien. Die Kulturbodentheorie begründete aber auch Ansprüche auf jenseits der Reichsgrenzen liegende Gebiete der Kaschuben und der evangelischen Polen im südlichen Teil der früheren Provinz Posen. Die „Volks- und Kulturbodenforschung“ wollte deren Zugehörigkeit zum Reich und generell die Vorrangstellung der Deutschen wissenschaftlich untermauern. Mit nationalistisch aggressiver Grundausrichtung suchten die Kulturbodenforscher polnische Irredenta im Reich zu verhindern und eigene Ansprüche auf Gebiete jenseits der Staatsgrenze zu belegen. Der Geograf Carl Petersen behauptete 1931: „Wessen Seele von einem Nationalgedanken erfüllt wurde – ganz gleich, welchem Volkstum er entsprang – der gehört der Nation auch als echtes Mitglied an.“ Damit fehlte nur noch der Nachweis, wer und wo vom deutschen Nationalgedanken erfüllt worden war. Die eindeutige Zugehörigkeit war das Ideal der akademischen Grenzlandarbeiter und nicht Kompositformen wie dänische Deutsche oder polnische Deutsche. Die Kulturbodenforschung setzte sich sowohl über objektive Kriterien wie über politische Bekenntnisse hinweg und behauptete deutsche Nationalität, wo immer es ihr passte. Die Masuren in Ostpreußen und die Polen in Schlesien seien „Kulturdeutsche mit nichtdeutscher Haussprache“, weshalb sie beim Reich bleiben mussten. Sie bildeten „nationale Zwischenschichten“ und waren „Volksembryonen“. Die Bezeichnung „Wasserpolen“ war bewusst polemisch gewählt, weil sie das oberschlesische Polnisch gegenüber der polnischen Hochsprache abwertete. Für die Kulturbodenforscher waren die memelländischen Litauer, die Kaschuben, die oberschlesischen „Wasserpolen“, die Schlonsaken und Hultschiner lediglich „Volkssplitter“, die zum Volksganzen zurückkehren sollten. In akademischer Diktion fasste man sie summarisch als „eigensprachliche Kulturdeutsche“ zusammen. Getragen wurde diese Grenzlandarbeit ab 1926 von der Stiftung für Volks- und Kulturbodenforschung, ab 1932 von der Berliner Publikationsstelle und dem Ostdeutschen Heimatdienst Allenstein. Der Volksdeutsche Rat (1933) und die nationalsozialistische „Volksdeutsche Mittelstelle“ (1937) knüpften hier mit ihrer Losung „Heim ins Reich“ direkt an.

Niedergang und Neukonfiguration

Die meisten Regionalbewegungen waren 1945 diskreditiert, weil sie an der Destabilisierung ihrer Staaten mitgearbeitet und mit den Nationalsozialisten zusammengearbeitet hatten. Die Blockkonfrontation seit 1947 trug das Ihre zur Vereindeutigung der politischen (nicht nationalen) Lager bei, was Zwischenräume ermöglichte, solange sie politisch gleichgesinnt waren, übernationale Zusammenarbeit favorisierte und nationale Gegensätze zurücktreten ließ. Erst in den 1970er Jahren kam es zu einer erneuten Aufwertung alles Regionalen, der Denkmalpflege und des ökologisch bewussten Lebens vor Ort und im Kleinen. Zwischenräume waren wieder im Kommen. Die Globalisierung in der Nachkriegszeit löste als Gegenreaktion die Suche nach einem Zuhause aus, das viele im Dialekt, im denkmalgeschützten Bauernhaus und überhaupt in der eigenen Region fanden. Der eigene Raum war jetzt nicht mehr der Gegenpol zum Nationalstaat, sondern eher zur globalisierten Kommunikation und zu den internationalen Handels- und Finanzströmen. Gerade gemischte Räume gewannen an Attraktivität. Im Rahmen der Europäischen Union entstanden vor diesem Hintergrund neue Zwischenräume, die Eure­gios. 1996 existierten bereits 40 dieser transnationalen Grenzregionen, die Brüssel finanziell unterstützte. 15 bundesdeutsche Länder waren daran beteiligt. Man entwickelte zu diesem Zweck grenzüberschreitende Studiengänge, anerkannte sich gegenseitig die Studienabschlüsse und schuf einen gemeinsamen Nahverkehr dies- und jenseits der Grenzen. Zu diesen neuen Zwischenräumen gehörte die Region Oberrhein, die Südbaden, das Elsass und die Nordwestschweiz verband, und die Euregio Maas-Rhein, die die niederländische Provinz Süd-Limburg, die belgischen Provinzen Limburg und Lüttich und die nordrhein-westfälische Region Aachen umfasste. Zur Euregio SaarLorLuxRhein zählten Rheinland-Pfalz, Lothringen, Luxemburg sowie die deutschsprachigen Gebiete und die Provinz Luxemburg in Belgien. Im Raum Tirol – Südtirol – Trentino arbeiteten italienische und österreichische Regionen zusammen. Zwischenräume gewannen auch deswegen an Bedeutung, weil die Leitbegrifflichkeit klar abgegrenzter nationaler Souveränität an Bedeutung verloren hatte. Wichtiger wurden Formen von pooled und shared sovereignty. Generell traten neben und zur Machtsorte der demokratisch legitimierten Mehrheitsentscheidung andere Formen der Governance, die die Loyalität der von den politischen Entscheidungen Betroffenen sicherstellen sollten. Europäische Verhandlungssysteme übersetzten Formen abgeschlossener Souveränität in permanente Beteiligungsverfahren, was neuen Räumen und generell der Kategorie des Zwischen entgegenkam. Zwischenräume trennen nicht mehr, sie verbinden.


Literatur

Cole, Laurence 2007: Different paths to the nation: regional and national identities in Central Europe and Italy, 1830–70. Basingstoke.

King, Jeremy 2002: Budweisers into Czechs and Germans a local history of Bohemian politics, 1848–1948. Princeton.

Kohser-Spohn, Christiane 2001: Staatliche Gewalt und der Zwang zur Eindeutigkeit die Politik Frankreichs in Elsass-Lothringen nach dem Ersten Weltkrieg. In: Ther, Philipp (Hg.): Nationalitätenkonflikte im 20. Jahrhundert. Wiesbaden, S. 183–202.

Naimark, Norman M. 2004: Flammender Haß. Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert. Übersetzt von Martin Richter. München.

Ther, Philipp/Sundhaussen, Holm 2003: Regionale Bewegungen und Regionalismen in europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Marburg.

Weichlein, Siegfried 2006: Nationalismus und Nationalstaat in Deutschland und Europa. Ein Forschungsüberblick. In: Neue Politische Literatur, 51, 2/3, S. 265–351.

Weichlein, Siegfried 2012: Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa. 2. Aufl. Darmstadt.
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