Die Autorin

Lisa Hoppel ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien.

Nationalismus als Befreiungsideologie im Prozess der Dekolonisierung

Nationalismus scheint in einem grundsätzlichen Widerspruch zu Befreiung zu stehen, legitimiert er doch Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Wenn Befreiungsnationalismus aber nicht nur eine politische, sondern auch eine soziale Befreiung anstrebt, lässt sich sein emanzipatorisches Potential erkennen. Im Zuge der Dekolonisierungsprozesse formulierten anti­kolo­nia­le Nationalist*innen multiple Entwürfe einer postimperialen, egalitären Weltordnung, die nicht nur Möglichkeiten, sondern auch Fallstricke nationaler Befreiung veranschaulichen.

Das Spannungsverhältnis von Nationalismus und Befreiung

Die Ambivalenz des Nationalismus spiegelt sich in zahlreichen Konflikten wider. Bürgerkriege, Diktaturen und Krisen werfen Fragen nach den Grenzen nationaler Befreiung auf – nicht nur in postkolonialen Staaten. Dennoch bleiben die Dilemmata postkolonialer Staatlichkeit brisant, die nicht selten mit kulturellen Argumenten begründet werden. Gängige Erklärungen verweisen auf die Auswirkungen eines „bösen“, ethnischen Nationalismus, der als eine Abweichung des „guten“, zivilen Nationalismus (West-)Europas dargestellt wird. Solche Narrative sind nicht nur normativ und eurozentrisch, sondern auch wenig aussagekräftig. Um diesen kurzsichtigen Befunden entgegenzuwirken, bedarf es eines besseren Verständnisses der historisch gewachsenen Strukturen und Bedingungen heutiger Verhältnisse. Dazu zählt auch, die vielfältigen, stets veränderlichen Bedeutungsfelder von Nation und Nationalismus im Zuge der Unabhängigkeitswerdungen zu untersuchen. Wie war die Nation im Kontext antikolonialer Befreiung gefasst? Was waren die Ziele und Strategien von nationalen Befreiungsbewegungen? Und welche Fallstricke brachte der Kampf um nationale Befreiung mit sich? Das Verhältnis von Nationalismus und Befreiung ist immer widersprüchlich. Denn Nationalismus ist zugleich Integrations- und Ausgrenzungsideologie. Die Integrationskraft des Nationalismus eint, solidarisiert und mobilisiert z. B. im Kampf gegen ungerechte Verhältnisse und Unterdrückung. Sobald Nationalismus integriert, muss er aber zugleich aus- und abgrenzend wirken. Die Imagination einer kollektiven „Wir“-Identität benötigt schließlich immer auch die Konstruktion der „Anderen“, die sich von der „vorgestellten Gemeinschaft“ (Anderson 1983) unterscheiden. Nationalismus beinhaltet daher sowohl regressive als auch emanzipatorische Elemente, die das Spannungsverhältnis zwischen Befreiung und Unterordnung konstituieren. Während Nationalismus die „Anderen“ ausgegrenzt, schafft er im Inneren eine vermeintliche Einheit, homogenisiert und unterwirft die „Eigenen“ den kollektiven Zielen, wodurch soziale Bruchlinien verschleiert werden. Somit dient Nationalismus immer auch der Herausbildung und Absicherung von Herrschaftsverhältnissen. 

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