Der Autor

Dr. Leonid Luks ist Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Macht und Ohnmacht der „offenen Gesellschaften“

Ein historischer Rückblick aus aktuellem Anlass

Einige Jahre nach ihrem größten Triumph – der Überwindung der europäischen Spaltung infolge der friedlichen Revolutionen in Osteuropa – vollzog sich eine immer tiefer werdende Erosion der europäischen Idee. Erst die Solidarisierung mit der am 24. Februar 2022 überfallenen Ukraine sollte den „offenen Gesellschaften“ zu einem neuen Aufbruch verhelfen. Aber nicht nur die Verfechter der Freiheit, sondern auch ihre autokratischen Verächter erleben zurzeit einen immer stärkeren Konsolidierungsprozess.


Kein „Ende der Geschichte“

In seinem Lexikon-Artikel „Totalitarian and Authoritarian Regimes“ vom Jahre 1975 schrieb der spanisch-amerikanische Politologe Juan J. Linz, dass pluralistisch verfasste, demokratische Staaten eine ähnliche Ausnahme in der Vielfalt der politischen Systeme darstellten wie totalitäre Regime. Die am meisten verbreitete Regierungsform auf dem gesamten Globus seien autoritäre Regime unterschiedlichster Art. Ihnen werde auch die unmittelbare Zukunft gehören. Einige Jahre nach dieser Feststellung begann der Siegeszug der Demokratien, und zwar in einem weltweiten Ausmaß. Autoritäre bzw. posttotalitäre Regime in Osteuropa, in Lateinamerika und in Südafrika brachen wie Kartenhäuser zusammen. Als Juan Linz die oben erwähnte These aufstellte, bildeten die pluralistisch verfassten Gesellschaften noch Inseln im „Meer“ von Diktaturen unterschiedlichster Prägung. Im ausgehenden 20. Jahrhundert begann sich das Kräfteverhältnis aber eindeutig zugunsten der „offenen Gesellschaften“ zu wandeln. Dieser Triumph des demokratischen Gedankens währte bekanntlich nur kurz. Die euphorische Stimmung, die der Zusammenbruch der Diktaturen überall ausgelöst hatte, ist aufgrund der schwierigen Transformationsprozesse schnell verflogen. Die zur Zeit der „Wende“ aufgekommenen Erwartungen konnten sich nur zum Teil erfüllen. In vielen Transformationsländern fand eine autoritäre Wende statt, die mit einer weitgehenden Demontage der bereits entwickelten zivilgesellschaftlichen und rechtsstaatlichen Strukturen verbunden war. Aber auch die etablierten bzw. konsolidierten Demokratien haben sich vom Triumphalismus des Wendejahrs 1989, der sich damals besonders deutlich in der Abhandlung Francis Fukuyamas „Das Ende der Geschichte“ äußerte, verabschiedet. Die Terrorakte vom 11. September 2001 trugen dazu wesentlich bei. Danach kam 2014 die Putinsche Annexion der Krim, die die „offenen Gesellschaften“ in Ost und West zusätzlich in einer außerordentlichen Weise herausforderte. Dies war die Konstellation, in welcher der „ZEIT“-Redakteur Bernd Ulrich folgende These aufstellte: „So schwach wie heute war (der Westen) noch nie. Was überraschend ist, wenn man bedenkt, dass der vermeintliche Höhepunkt westlicher Macht gerade mal ein Vierteljahrhundert zurückliegt“ (Ulrich…

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