„Es geht nicht um Verzicht, es geht um Vielfalt!“
POLITIKUM: Liebe Frau Schreiner, ich würde Sie zum
Einstieg bitten, dass Sie uns, die wir einfach einkaufen
und essen, was das Warenangebot heute hergibt, und
uns nicht wissenschaftlich mit Ernährung beschäftigen,
kurz abholen. Könnten Sie skizzieren, wie Ihrer Ansicht
nach unsere Nahrung in der Zukunft aussehen wird?
Ich denke, dass es für viele von uns schwierig ist, sich
das vorzustellen – Essen wir bald alle Insekten, Grünalgen
und durch Präzisionslandwirtschaft gewonnenes
Gemüse?
Monika Schreiner: Tatsächlich begegnet mir diese
Frage häufig, oft auch in Form von Ängsten: Wird mir
dann meine Currywurst genommen? Auf was muss
ich noch verzichten? Aber das ist nicht unser Punkt.
Es geht nicht um Verzicht, es geht um Vielfalt! Und
natürlich muss Essen schmecken, sonst setzen sich
Food-Innovationen nicht durch.
POLITIKUM: Zugegebenermaßen fällt mir die Vorstellung
bei Insekten aber schwer.
Monika Schreiner: Das verstehe ich. Insekten zum
Beispiel sollen aber gar nicht in ihrer ursprünglichen
Form „aufgetischt“ werden. Wir arbeiten vielmehr
daran, dass einzelne daraus extrahierte Inhaltsstoffe
in herkömmliche Lebensmittel wie in Pasta eingearbeitet
werden. Natürlich haben die Nudeln dann auch
eine andere Geschmacksnote, aber die üblichen Food-
Produkte der westlichen Ernährungsweise blieben
erhalten. Oder denken Sie an Sushi, da konsumieren
wir ja schon längst Algen. Insofern denke ich, dass es
keinen radikalen Bruch mit der bisherigen Genusskultur
geben wird, sondern wir unser Essen sukzessive um
weitere Elemente bereichern. Das ist eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe, die man nicht übers Knie brechen
kann, sondern alle müssen mitgenommen werden.
POLITIKUM: Da klingt bereits durch, dass Sie mit
Widerständen rechnen. Bevor wir darauf näher eingehen,
stellt sich für mich die Frage, weswegen es diese
Veränderungen geben wird oder vielleicht sogar geben
muss. Vor welchen Herausforderungen stehen wir, die
überhaupt ein Nachdenken und Forschen über diese
neuartigen Weisen der Ernährung und den gesellschaftlichen
Umstellungsprozess notwendig machen?
Monika Schreiner: Da sind zunächst die offensichtlichen
Ereignisse wie die Corona-Pandemie und der
Krieg in der Ukraine. Denken Sie an die Störungen in
den Lieferketten, die beide Ereignisse ausgelöst haben.
Allein die Havarie eines Schiffes im Suezkanal hat ja, wie
uns 2021 vorgeführt wurde, das Potenzial, sämtliche
Abläufe des weltweiten Handels durcheinander zu
bringen. Als wir unser Projekt entwickelt hatten – das war vor der Covid-19-Pandemie –, konnten wir noch
gar nicht absehen, dass unsere Zukunftsszenarien
tatsächlich so schnell Wirklichkeit werden würden.
Neben dem Szenario „no trade“, bei dem die Realität
uns eingeholt hat, bestand unsere Ausgangsüberlegung
außerdem in dem Szenario „no land“, also
der Tatsache, dass die Weltbevölkerung immer weiter
wächst – vor allem in den Städten – und wir zu wenig
Ackerland haben. Zum einen wegen des urbanen
Bevölkerungswachstums, zum anderen aber auch
wegen eines anderen Verwendungsbedarfs, wie der
Renaturierung, der Nutzung als CO2-Senken, für den
Anbau von Energiepflanzen etc. Wir stehen also auch
vor der Herausforderung, dass wir mit immer weniger
Ackerfläche immer mehr Menschen satt bekommen
und Antworten auf den Klimawandel finden müssen.
Und dann gibt es noch das Problem der immer knapper
werdenden Ressource Frischwasser.
POLITIKUM: Inwiefern liefert Ihr Projekt darauf
Antworten?
Monika Schreiner: Auf mehreren Ebenen: Durch Indoor-
Farming und Präzisionslandwirtschaft benötigen wir
viel weniger Fläche. Außerdem haben wir Konzepte
entwickelt, um Brachflächen in der Stadt wie nicht
mehr genutzte Flughäfen und U-Bahn-Systeme zu
nutzen. Vieles könnte dann im städtischen Nahraum
produziert werden. Die Transportwege wären also
kürzer. Hinzu kommt, dass Insekten weniger Frischwasser
brauchen, auch Salzwasser könnte für marine
Nahrungsquellen eingesetzt werden. Das geht sogar
so weit, dass dadurch Flächen für neue, nachhaltige
Nutzungskonzepte frei werden würden.
POLITIKUM: Darauf würde ich gerne noch näher eingehen,
weil mich das an dem Zukunftsszenario, das Sie
auf der Projekthomepage erläutern, überrascht hat.
Sie sprechen dort von einer Verbindung von Ökologie
und Ökonomie. Die Massentierhaltung soll durch
artgerechtere, naturnähere Haltungsformen ersetzt
werden – wäre das nicht deutlich ressourcenintensiver
und insofern kontraproduktiv?
Monika Schreiner: Da sprechen Sie einen wichtigen
Punkt an. Unser Idealbild besteht nicht darin, alles
auf möglichst effektive und effiziente Biomasse-
Produktion zu trimmen. Vielmehr schwebt uns vor,
dass wir Produktionsbereiche durch den Einsatz von
neuester Technologie und alternativen Nahrungsquellen
revolutionieren und dadurch weniger Fläche
und Frischwasser benötigen, und dass wir dadurch
andererseits neue Kapazitäten gewinnen, um zurück
zu klimaresistenten Arten und Sorten und Mischanbau
statt Monokultur gehen zu können. Also mehr
Förderung von Bodengesundheit, Biodiversität und Tierwohl – kurz gesagt mehr Nachhaltigkeit –, das
muss kein Widerspruch sein.
POLITIKUM: Ihnen schwebt also ein Mix aus High-
Tech-Nahrungsmittelproduktion und naturnaher
Landwirtschaft vor?
Monika Schreiner: Ja, genau. Und auch da wieder
ist das nicht so gegensätzlich zu sehen. Wir arbeiten
beispielsweise gerade an virtuellen Zäunen, an denen
Rinder ein akustisches und haptisches Signal bekommen.
Dadurch können sie auf der Weide gehalten und
weit weniger beeinträchtigt werden als durch den
Schlag eines Elektrozaunes. Ich denke, dass gerade
die jüngere Generation immer mehr auf das Tierwohl
achtet und sich deswegen viele Ansätze in diese Richtung
durchsetzen werden.
POLITIKUM: Wo wir dann wieder bei den Widerständen
wären. Wo sehen oder befürchten Sie diese besonders?
Oder anders gefragt: Wer profitiert von diesen Entwicklungen
und wer hat vielleicht auch das Nachsehen?
Oder wären diese Entwicklungen für alle positiv?
Monika Schreiner: Wie schon angesprochen, handelt
es sich bei der Transformation der Agrarsysteme um
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Und wir alle
sind manchmal träge. Tatsächlich müssen die Veränderungen
aber von den Verbraucher*innen mitgetragen
werden. Sie sind ja diejenigen, die letztlich darüber
entscheiden, ob sich neue Produkte durch Nachfrage
auf dem Markt durchsetzen.
Außerdem ist es natürlich nötig, dass der Transfer
der Forschung auf den Markt überhaupt gelingt. Zu
diesem Zweck arbeiten wir mit Start-Ups zusammen
und versuchen, durch unser Reallabor unsere Innovationen
greifbarer zu machen. Wir binden Studierende,
Agrarwirte und auch Bürger in einen offenen
Dialog und gemeinsamen Experimentierraum ein, um
in einem partizipativen Prozess herauszufinden, was
angenommen werden könnte und was vielleicht gar
nicht geht.
POLITIKUM: Im Idealfall findet die mit Insektenbestandteilen
angereicherte Pasta, die in ihrer Herstellung
die planetaren Grenzen berücksichtigt, von der Nische
den Weg in den Mainstream?
Monika Schreiner: Richtig. Natürlich wird es dabei
auch Verlierer geben, wenn sich Unternehmen diesen
Neuerungen versperren oder sie verpassen. Ich denke
aber, dass wir am Beispiel des Food-Trends zu Fleischersatzprodukten
sehr gut sehen können, dass sich vielen
damit ein neues Konsum-Segment eröffnet. Wie schon
erwähnt, möchte sich gerade die jüngere Generation
nachhaltig, klimabewusst und aufs Tierwohl bedacht
ernähren. Dieser Markt boomt und wenn sich mit
neuen Produkten der Absatz steigern lässt, bedienen
natürlich auch die Firmen die neue Nachfrage.
POLITIKUM: Und wie würden Sie die Situation über
Deutschland hinaus mit Blick auf den globalen Markt
einschätzen?
Monika Schreiner: Unser Projekt ist zunächst nur auf
Deutschland bezogen. Aber natürlich kann es bei den
genannten Herausforderungen keine Insellösungen
geben. Es nützt ja beispielsweise nicht viel, wenn in
Deutschland weniger Fleisch konsumiert wird, aber die
Fleischproduktion externalisiert wird und anderswo
gegebenenfalls unter umweltschädlicheren Bedingungen
für Mensch und Natur stattfindet. Unser Interesse
muss also sein, dass sich diese Veränderungen weltweit
durchsetzen. Und wir sehen im Übrigen auch, dass
Staaten wie Singapur oder die Niederlande aus ihren
Interessen heraus schon sehr weit sind. Auch Japan
wirbt mit Indoor-Landwirtschaft – leider vor dem
Hintergrund der Katastrophe in Fukushima, also durch
eine Krise initialisiert.
POLITIKUM: Ich möchte noch auf einen weiteren
Aspekt eingehen, der viele Menschen im Kontext der
Ernährung beschäftigt. Gibt es aus Ihrer Sicht – vor
dem Hintergrund der Herausforderungen Ernährung
der Weltbevölkerung und Schutz des Klimas – eine
„richtige“ Ernährungsform?
Monika Schreiner: Zunächst einmal wäre es mir sehr
wichtig, dass wir das Schwarz-Weiß-Denken in diesem
Bereich, diese enorme Polarisierung, überwinden –
eben dieses vegetarisch gegen fleischessend, bio gegen
konventionell, Gentechnik gegen Anti-Gentechnik, lokal gegen global etc. Das Thema wird inzwischen
häufig so aufgeheizt diskutiert, dass keine Vermittlung
mehr zwischen den verschiedenen „Lagern“ möglich
erscheint. Ich würde da gerne mehr Ausgewogenheit
und Sachlichkeit in die Debatte bringen.
Was die Ernährungsform anbelangt: Es gibt die sogenannte
EAT-Lancet-Kommission, ein Zusammenschluss
von 37 Wissenschaftler*innen aus 16 Ländern
und unterschiedlichen Disziplinen, die Empfehlungen
für eine nachhaltige und gesunde Ernährungsweise
erarbeitet haben. Die sogenannte „Planetary Health
Diet“ hat den Anspruch, die planetaren Grenzen zu
berücksichtigen und eben auch der humanen Gesundheit
dienlich zu sein.
POLITIKUM: Und was waren die Ergebnisse dieser
Kommission?
Monika Schreiner: Konkret empfiehlt sie den Konsum
von mehr Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten und
weniger Fleisch, insgesamt eine sehr pflanzenbasierte
Ernährung. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung
(DGE) hat in ihrer Stellungnahme die Empfehlungen
prinzipiell unterstützt, aber darauf hingewiesen, dass
beispielsweise der empfohlene Verzehr von Milchprodukten
in unserer Esskultur deutlich höher ist.
Und was das Saisonale und Regionale anbelangt,
merken wir auch, wie kontraproduktiv die aktuellen
Polarisierungen sind. Denn während die einen vielleicht
nicht auf ihre Currywurst und ihr Schnitzel verzichten
möchten und deswegen kritisiert werden,
würde es den anderen möglicherweise sehr schwerfallen,
auf Bananen, Mangos und Kakao aus fernen
Ländern zu verzichten. Verzicht möchte ich keiner
der beiden Seiten predigen, aber Sie merken schon:
Ein wenig Offenheit für Neues und eine gewisse Umstellung
unserer Ernährungsgewohnheiten wird wohl
bei uns allen nötig sein.
POLITIKUM: Ich jedenfalls bin gespannt auf meinen
ersten mit Bestandteilen von Insekten angereicherten
Teller Nudeln. Frau Schreiner, ich danke Ihnen für das
Gespräch!