Der Autor

Prof. Dr. Christian Jansen lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier.

Die Ambivalenz nationalistischen Denkens

Nation und Nationalismus in Deutschland 1800–1914

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die nationalistische Bewegung in Deutschland zu einem wichtigen politischen Akteur. Sein unheilvoller Einfluss wurde bereits früh sichtbar und entfaltet seine politische Wirkung bis in die Gegenwart.

Geographische, politische und ideengeschichtliche Besonderheiten führten dazu, dass die nationalistische Bewegung sich in Deutschland unter anderen Voraussetzungen entwickelte als in West- oder Nordeuropa. Das lag u. a. daran, dass das Gebiet, das die deutschen Nationalisten einen wollten, äußerst heterogen war. Tiefe konfessionelle Spaltungen hatten seit der Reformation und den folgenden Kriegen ältere regionale und lokale Gegensätze überlagert. Der neuzeitliche Staatsbildungsprozess im Reich vergrößerte die Unterschiedlichkeiten, bis die „Flurbereinigung“ durch Napoleon zwar zahllose kleine Herrschaften aufhob, aber zahlreiche lebensfähige Mittelstaaten mit vielfältigen Unterschieden und Interessengegensätzen bestätigte und oft stärkte. Die Auflösung der Ständegesellschaft und vielfältige Modernisierungen unter französischer Herrschaft führten zu neuen gesellschaftlichen Spannungen, die die Klassengesellschaft ankündigten. Wegen der multiethnischen und ständischen Struktur des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation waren die möglichen Grenzen eines deutschen Nationalstaats unklar und strittig (vgl. Echternkamp/Müller 2002, 25–59 (Ute Planert)). Als Intellektuelle Ende des 18. Jahrhunderts versuchten, nach westlichem Vorbild „deutsches“ Nationalbewusstsein zu erziehen, galten ihnen die Sprache und die über sie vermittelte literarische und geistige Kultur als wichtigste Gemeinsamkeiten. Dieser archimedische Punkt war jedoch zugleich der Ausgangspunkt einer ethnischen Fundierung der deutschen Nation. Zur Spezifik des deutschen Nationalismus trug außerdem bei, dass dieser während der anti­napoleonischen Kriege erstmals größere Resonanz fand, also im Kampf gegen eine „Fremdherrschaft“, die sich das universalistische Programm der Französischen Revolution an die Fahnen geheftet hatte. 

Diese Konstellation verstärkte antiuniversalistische Tendenzen, so dass der deutsche nationalistische Diskurs die prinzipielle Verschiedenheit der Völker und ihrer „Nationalcharaktere“ betonte. Die Nationalisten waren von den nach den „Befreiungskriegen“ auf dem Wiener Kongress 1815 geschaffenen gesamtdeutschen Institutionen, dem Deutschen Bund und seinen Organen, enttäuscht, zumal die Heilige Allianz der restaurativen Mächte Russland, Preußen und Österreich in Europa alle liberalen und nationalistischen Strömungen unterdrückte. Ihr Kampf gegen Nationalismus als Ordnungsfaktor erzeugte in der freiheitlich-nationalistischen Opposition Distanz zu den Institutionen des Bundes und der Einkommensteuer. Zugleich stilisierte sie das „Volk“ zur authentischen Kraft, zur Inkarnation des…

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