Der Autor

Dr. Thomas Brey ist Historiker und Journalist. Bis zu seiner Pensionierung war er Regionalbüroleiter für alle dpa-Büros in Südosteuropa.

Alter Nationalismus auf dem Balkan neu entfacht


Die Balkanhalbinsel ist seit Jahrhunderten Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen, die durch Nationalismus befeuert wurden. Zuletzt sorgten die Jugoslawienkriege der 1990er Jahre in Europa für Entsetzen. Heute blüht der Nationalismus erneut und ist sogar zu einem Instrument der Herrschaftssicherung politischer Eliten geworden.

In diesem Sommer jährt sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum 110. Mal. Anlass (nicht Grund) dieses als „Urkatastrophe der Menschheit“ in die Geschichtsbücher eingegangenen ersten industriell geführten Krieges war das Attentat des serbischen Nationalisten Gavrilo Princip auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo. Kurz zuvor hatten sich Serbien, Bulgarien, Griechenland, Montenegro und Rumänien in zwei Balkankriegen (1912/13) um die Gebiete des früheren Osmanischen Reichs bekämpft, das über Jahrhunderte diese Region beherrscht hatte. Damals galt der Balkan als „Pulverfass Europas“, das später auch eine wichtige Rolle im Zweiten Weltkrieg spielte. Blutiger Schlusspunkt bisher waren die Kriege beim Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaates Jugoslawien (1991–1999). Nachdem aus diesem südslawischen Gebilde nicht weniger als sieben neue Staaten hervorgegangen waren (Kroatien, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Slowenien, Kosovo und Bosnien-Herzegowina), sollte eigentlich eine friedlichere Zukunft starten. Slowenien und Kroatien traten der EU und der NATO bei, Montenegro und Nordmazedonien wurden ebenfalls Mitglieder dieses Verteidigungsbündnisses und begannen Beitrittsverhandlungen mit Brüssel. Serbien, größtes und geografisch zentralstes Land des Westlichen Balkans, verhandelt seit 2014 über seinen EU-Beitritt. Auch die Nachbarn dieser Region – Ungarn, Bulgarien, Rumänien und Griechenland – sind inzwischen fest in euroatlantischen Strukturen verankert. Alles sah danach aus, dass der alte Nationalismus als Motor vieler Konflikte in dieser Region endgültig der Vergangenheit angehören würde. Ein Trugschluss, wie sich heute rückblickend zeigt.

Der alte speist den neuen Nationalismus

Aktuell ist der Dreiklang Extremismus, Populismus und Nationalismus wieder für viele der größten Probleme der Region verantwortlich (Auswahl):

  • Der ungarische Regierungschef Viktor Orban erhebt unter Verweis auf ein angeblich historisches „Großungarn“ in seinen Reden unverblümt Ansprüche auf Teile der Slowakei, Rumäniens, der Ukraine, Serbiens und sogar Kroatiens. Er lässt sich gern vor einer großungarischen Landkarte oder bei Sportveranstaltungen mit einem Schal mit dieser Karte fotografieren.
  • In Rumänien verzeichnet die rechtsextreme nationalistische Partei AUR einen kometenhaften Aufstieg unter den Wählerinnen und Wählern. Sie schickt sich an, nach den Parlamentswahlen in diesem Jahr die Regierung zu erobern. Die AUR verteufelt die EU und vergleicht sie mit der einstigen Sowjetunion.
  • In Bulgarien hat die Sozialdemokratische Partei BSP noch für dieses Jahr den Zusammenschluss von 16 Parteien zu einem nationalistischen Block angekündigt. Mit von der Partie ist die radikal antieuropäische und pro-russische Partei Ataka. Außenpolitisch blockiert das EU-Mitglied Bulgarien echte Beitrittsverhandlungen seines Nachbarn Nordmazedonien mit Brüssel. Zuerst müsse der Nachbar seine Sprache aufgeben, die angeblich nur ein bulgarischer Dialekt sei, und seine Geschichte im Sinne bulgarischer Lesart umschreiben. Schließlich müsse die nur etwa 3.000 Menschen zählende bulgarische Minderheit in Nordmazedonien als „staatsbildende Nation“ in der Verfassung verankert werden. Im Gegenzug wird aber die Existenz jeder mazedonischen Minderheit in Bulgarien bestritten.
  • Bosnien-Herzegowina gilt heute trotz eines Heers westlicher Diplomaten und Experten sowie vieler Milliarden Euro Finanzhilfen als gescheiterter Staat (failed state). Auch hier liegt der Grund im Nationalismus. Die muslimischen Bosniaken, die knapp die Hälfte der gut drei Millionen Einwohner stellen, streben den Aufbau eines Zentralstaates an. Die orthodoxen Serben, die mit ihrem Bevölkerungsdrittel eine Landeshälfte kontrollieren, arbeiten an dessen Abspaltung. Das gilt auch für die katholischen Kroaten, die ungefähr 15 Prozent aller Bürger ausmachen. Und weil niemand die Oberhand gewinnt, blockieren sich diese drei Völker nach Kräften, so dass zentrale politische Institutionen und Führungsämter immer wieder über mehrere Jahre unbesetzt sind bzw. kommissarisch verwaltet werden.
  • Auch das kleine Adrialand Montenegro blockiert sich seit vielen Jahren selbst, weil die Serben im Land die 2006 in einem Referendum beschlossene Abspaltung vom Nachbarn Serbien nicht akzeptieren und sie rückgängig machen wollen.
  • Der neue Nationalismus in Serbien kommt in Gestalt der seit Sommer 2020 propagierten „Serbischen Welt“ (Srpski svet) daher: Alle Serben in den Nachbarländern sollen mit dem „Mutterland Serbien“ vereinigt werden. Es genügt offensichtlich nicht, dass dieses Projekt eines Großserbien in den Kriegen beim Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaates Jugoslawien (1991–1999) dramatisch gescheitert ist. Millionen Vertriebene, mehr als 100.000 Tote und die Verwüstung ganzer Landstriche waren der Preis. Die „Serbische Welt“ orientiert sich am ideologischen Modell der „Russischen Welt“ (Russkij mir). Auch hier soll das angeblich geteilte russische Volk wieder in einem Staat vereinigt werden. Ein Gedanke, der vom Kreml auch im aktuellen Angriffskrieg gegen die Ukraine ins Feld geführt wird.
  • Der neuen Blüte des Nationalismus können sich auch die EU-Mitglieder Slowenien und Kroatien nicht entziehen. Sie streiten sich an zahlreichen Stellen ihrer gemeinsamen Grenze um deren Verlauf. Besonders gerungen wird um die Abgrenzung zwischen den beiden eigentlich befreundeten Staaten in der Bucht von Piran auf der Halbinsel Istrien an der nördlichen Adria. Selbst ein EU-Schiedsverfahren ging schief. Zeitweilig gingen die Kontrahenten gar mit Polizei gegen Boote der anderen Seite vor, die angeblich in verbotenen Gewässern fischten. Folgerichtig blockierte Slowenien (das schon seit 2004 EU-Mitglied war) immer wieder die kroatische Annäherung an Brüssel, die schließlich 2013 doch geschafft wurde.
  • Diese Auswahl könnte leicht verlängert werden um Beispiele wie Griechenland (das zwei Jahrzehnte Nordmazedonien blockierte, um eine Namensänderung dieses kleinen Staates zu erzwingen), Albanien (das seine Landsleute im benachbarten Kosovo gegen Serbien unterstützt) oder die Slowakei nach dem Wahlsieg des heutigen Premiers Robert Fico. Der baut sein Land von Grund auf um nach der Blaupause Ungarns. Medien sollen an die Leine gelegt, die Opposition drangsaliert und die Justiz willfährig gemacht werden. Selbst Österreich, das Tor zum Westbalkan, ist nicht mehr immun. Der rechtspopulistische Herbert Kickl, dessen FPÖ in allen Umfragen klar auf dem ersten Platz liegt, könnte nach der Wahl in diesem Jahr „Volkskanzler“ (eigene Zielbeschreibung) werden.

Funktion des neuen Nationalismus im politischen System

Der neue Nationalismus dient heute wie der alte vor Jahrzehnten im Kern zur Machtsicherung der politischen Eliten. Ausgangspunkt ist die Behauptung, die Existenz der eigenen Nation sei bedroht (1). Zweiter Baustein in diesem ideologischen Gebäude ist die angebliche eigene Opferrolle in der Geschichte (Experten sprechen von „self-victimization“), selbst wenn – wie zum Beispiel in den Jugoslawienkriegen – mein Volk der eigentliche Aggressor war (2). Jahrzehntealte Feindbilder, nach denen der Nachbarstaat/die Nachbarstaaten Aggressionen gegen mein Land planen, werden befeuert (3). Daraus wird die angebliche Notwendigkeit abgeleitet, dass sich die gesamte Nation um einen starken „Führer“ scharen muss, um geeint dieses drohende Ungemach für das eigene Land/das eigene Volk abzuwehren (4). Reformen und Demokratisierungen werden gestoppt oder zurückgestellt für die Zeit nach der Abwehr der behaupteten Bedrohung von außen (5). Ein wichtiger Kern dieses populistischnationalistischen Gebäudes ist der Aufbau eines klientelistischen Systems in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft: Der alles bestimmende Spitzenpolitiker setzt seine Gefolgsleute an die Schaltstellen der Macht (top-down-Modell). Sie sichern ihrem Ziehvater die Loyalität ihrer Mitarbeiter. Im Gegenzug wird ihnen erlaubt, unbehelligt von den Behörden private Geschäfte zu machen oder staatliche Gelder in eigene Taschen abzuzweigen (6). Die Medien werden zentralisiert und zensiert, um die Völker nationalistisch aufzurüsten und den „Führer“ zu glorifizieren (7). 

Durch die Zerstörung unabhängiger Institutionen wie der Justiz wird Sorge getragen, dass dieser Klientelismus ungehindert funktioniert (8). Alle staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Institutionen werden durch die herrschende Partei durchdrungen. Das ist möglich, weil – wie zum Beispiel in Serbien – zehn Prozent der Bevölkerung dieser Partei angehören (9). Auf dieser Machtbasis werden Wahlen manipuliert oder massiv gefälscht. Die Parteimitglieder werden verpflichtet, „sichere Stimmen“ von ihren Familienmitgliedern oder Arbeitskollegen zu organisieren. Teilweise wird mit Handys in der Wahlkabine dokumentiert, dass das Kreuzchen an der richtigen Stelle auf dem Wahlzettel steht (10). Die Opposition wird im Parlament und außerhalb weitgehend ausgeschaltet. Das geschieht durch behördliche Schikanen, mediale Pranger, den Kauf von Politikern oder durch geheimdienstliche Drangsalierung (11). Minderheiten der eigenen Nation in den Nachbarländern sind von Assimilation oder Vertreibung bedroht und müssen vom „Mutterland“ geschützt werden, wird behauptet (12). Durch außenpolitische Abenteuer wollen die politischen Eliten vom eigenen Unvermögen ablenken, ihren Landsleuten auch nur bescheidenen Wohlstand zu bringen (13).

Geschichtswissenschaft und Kirchen „legitimieren“ Nationalismus

Die nationalistischen Spitzenpolitiker und ihre Entourage missbrauchen die Geschichtswissenschaft, um eine nationale Geschichte zu kreieren, die heroische Taten, glorreiche Schlachten und geniale Könige, Herzöge oder Zaren als Beweis für die Einzigartigkeit und der Ewigkeit der eigenen Nation hervorgebracht hat. Diese irreale Weltsicht wird den Kindern in den Schulbüchern vermittelt, nachdem die wichtigsten nationalistischen Weichen bereits im Elternhaus gestellt wurden. Schulbuchanalysen belegen, dass hier die eigene Geschichte dargestellt wird als „ewiger Kampf“ gegen den böswilligen Nachbarn. Aggressionen und Grausamkeiten des eigenen Volkes werden als notwendige Übel dargestellt, eigene Opfer werden dramatisch erhöht und als Beweis notwendiger Verteidigung angeführt. So „bewiesen“ griechische Historiker, dass der Nachbar Nordmazedonien eigentlich ein Teil Griechenlands sein sollte. Zurzeit behauptet die bulgarische Historiografie, die in Nordmazedonien verehrten nationalen Helden in der Geschichte seien in Wirklichkeit Bulgaren. Schon Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hatte die Serbische Akademie der Wissenschaften mit ihrem berühmt-berüchtigten „Memorandum“ nachweisen wollen, dass Serbien das Recht habe, sich große Teile seiner Nachbarstaaten einzuverleiben. Das „Memorandum“ avancierte zur ideologischen Basis serbischer Aggressionen in den 90er Jahren gegen Kroatien und Bosnien-Herzegowina. In Serbien predigen Historiker seit Jahrzehnten den Mythos der „Schlacht auf dem Amselfeld“ (Kosovo polje) 1389, über die eigentlich nur dürftigste gesicherte Erkenntnisse vorliegen. 

Mit diesem Narrativ wird der Anspruch Serbiens auf seine fast nur noch von Albanern bewohnte ehemalige Provinz Kosovo „begründet“. Das 2008 von Serbien offiziell abgefallene Kosovo sei das „Herz Serbiens“ und das „Serbische Jerusalem“, das ohne Wenn und Aber wieder in den Staatsverband zurückkehren müsse. In Ungarn spielt die Katholische Kirche eine zentrale Rolle im Gedankengebäude von Regierungschef Viktor Orban. Der sieht sich und sein Land als Bewahrer und Verteidiger des christlichen Europas, das in Westeuropa durch moderne Lebensalternativen schon längst verraten worden sei. Folgerichtig lehnt Ungarn jede Einwanderung ab und hat gegen den ersten Flüchtlingsansturm 2015 auch die ersten Grenzzäune zu Serbien errichtet. Die Katholische Kirche in Ungarn wird großzügig aus dem Staatshaushalt unterstützt, obwohl wie in anderen Staaten Europas die Zahl der Gläubigen drastisch zurückgeht. Ihr werden Schulen und Kindergärten übertragen, die aber weiter vom Staat finanziert werden. Seinen stärksten Bündnispartner hat Orban im neuen slowakischen Regierungschef Robert Fico erhalten, mit dem er sich in diesem Januar ganz offiziell verbündet hat – gegen die Migration und gegen die EU. Auch in Bosnien-Herzegowina spielen die Religionen eine unrühmliche Rolle bei der Vertiefung der nationalen Gegensätze. Die nationalistischen Spitzenpolitiker können sich jederzeit auf die Schützenhilfe der kroatischen Katholischen Kirche oder der serbischen Orthodoxie verlassen. Schließlich bildet die Serbisch Orthodoxe Kirche in Serbien einen Pfeiler des Herrschaftssystems des autokratisch regierenden Präsidenten Aleksandar Vučić. Er räumt dieser Religionsgemeinschaft Privilegien ein und erhält im Gegenzug die religiöse Rechtfertigung seiner nationalistischen Außenpolitik.

Russland nimmt Balkan-Nationalismus als Blaupause für seinen Angriff auf die Ukraine

Man könnte auf den ersten Blick vermuten, die nationalistischen Strukturen Südosteuropas seien eine Randerscheinung der europäischen Politiklandschaft und daher ohne größere Bedeutung. Doch seit der russische Präsident Wladimir Putin den Nationalismus dort als Blaupause für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine genutzt hat, werden die dramatischen Auswirkungen deutlich. Schon bei der Annexion der Krim hatte Putin, der sowohl von Serbiens Vučić wie auch von Ungarns Orban glühend verehrt und als Idealtypus eines Politikers betrachtet wird, die Abspaltung des Kosovos von Serbien als Vorbild bezeichnet. Wie der Westen die Abspaltung der fast nur noch von Albanern bewohnten Region Kosovo von Serbien erzwungen habe, habe er die „russische Krim“ wieder nach Hause geholt. Folgerichtig erschienen in ganz Serbien an Hauswänden Landkarten der Krim und des Kosovos mit der Parole „Krim ist Russland und Kosovo ist Serbien“. Putin und sein Außenminister Sergej Lawrow wurden nicht müde, auch nach dem Angriff auf die Ukraine auf das angebliche Beispiel Kosovo hinzuweisen. Umgekehrt dient Putins Konzept von „Russkij mir“ (Russische Welt) Vučić als Vorbild für seine seit Sommer 2020 öffentlich formulierte „Srpski svet“ (Serbische Welt). 

Verkürzt und vereinfacht ausgedrückt zielen beide ideologische Gedankengebäude auf die Landsleute außerhalb des eigenen Nationalstaates, die wieder mit diesem vereint werden müssten. Obwohl Serbien als EU-Beitrittskandidat wirtschaftlich massiv vom Westen und dessen Investitionen, Experten und Finanzhilfen abhängig ist, gilt das Land als engster Verbündeter Russlands in Europa. Russland verfestigt diese enge Partnerschaft mit Belgrad mit einer einzigartigen Medienoffensive. Seit 2015 arbeitet die russische Staatsagentur Sputnik mit einer großen Redaktion in Belgrad, die im Jahr 2022 durch die Agentur RT (einst Russia Today) verstärkt wurde, die ebenfalls zu 100 Prozent vom Kreml finanziert und kontrolliert wird. Beide Propaganda-Outlets liefern tagtäglich kostenlose „Informationen“ in serbischer Sprache, die auch in den Nachbarländern Serbiens von den Regierungsmedien eins zu eins übernommen werden. Tag für Tag werden die Bürger in den Balkanländern mit einseitig russischen Sichtweisen auf die Welt bombardiert, die schließlich als Realität wahrgenommen werden, obwohl sie dramatisch konstruiert und wirklichkeitsfremd daherkommen (siehe die Analyse des Autors „Russische Medien auf dem Balkan“: https://shop.freiheit.org/#!/Publikation/1503). So glauben die meisten Menschen der Region, dass Russland und China die wahren Freunde und größten Geldgeber ihrer Länder sind, obwohl überall die EU und die USA die bestimmenden Partner sind. Gegen dieses mediale Trommelfeuer steht westliche Politik auf verlorenem Posten, weil Russland mit seiner Propaganda die Herzen der Menschen in Südosteuropa erreicht.

Der Westen verliert die Balkanländer Stück für Stück

Der blühende Nationalismus in Südosteuropa verringert den Einfluss des Westens, dessen Wertesystem in der Region mehr und mehr ins Hintertreffen gerät – zu Gunsten autoritärer Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle. Russland und China, das sich hier trotz ungünstiger Kredite mit Großprojekten wie dem Bau von Autobahnen und Kraftwerken einen Namen gemacht hat, setzen sich als Vorbilder für die kleinen Staaten auf der Balkanhalbinsel durch. Wie Brüssel selbst dazu beiträgt, dieses virtuelle Narrativ zu verfestigen, zeigt dieses fragwürdige Beispiel: Obwohl die EU 85 Prozent der Baukosten von 420 Millionen Euro für die strategische Brücke auf die kroatische Halbinsel Pelješac zahlte, die im Juli 2022 eröffnet wurde, ging der Auftrag an die Staatsfirma „China Road and Bridge Corporation“. Alle EU-Bewerberfirmen gingen leer aus. Das chinesische Unternehmen importierte nicht nur die Baumaterialien, sondern auch die Arbeitskräfte aus seiner Heimat, so dass diese Investition nicht einmal indirekt EU-Ländern oder deren Unternehmen zugute kam. Die EU schaut – jenseits aller Sonntagsreden – ohnmächtig zu. Das liegt an der fehlenden Strategie Brüssels für diesen Teil Europas. Denn die EU zieht hier nicht an einem gemeinsamen Strang – im Gegenteil. Staaten wie Frankreich oder Deutschland verfolgen ihre eigenen Interessen ebenso wie Großbritannien und die USA. Diese unterschiedlichen Politiken sind oft nicht kompatibel und blockieren sich selbst. Noch entscheidender sind indes die Sonderinteressen Ungarns. Regierungschef Orban verfolgt nicht nur in seiner Russlandpolitik ganz eigene Ziele. 

Er hat seinem serbischen Freund Vučić öffentlich versichert, Budapest werde durch seine Vetomacht mögliche Sanktionen gegen dieses Balkanland wegen dessen nationalistischen und autokratischen Regierungsstils verhindern. Im Gegenzug hat Serbiens alles entscheidender Präsident sein Land nach ungarischem Vorbild umgebaut: Justiz, Medien, Parlament, Behörden und Kommunen sind mehr oder weniger gleichgeschaltet. Dieses Trio – Orban bewundert Putin, Vučić bewundert Orban – lähmt jede erfolgversprechenden EU-Reformpolitik. Auch der nationalistische ehemalige Regierungschef von Nordmazedonien, Nikola Gruevski, der 2016 aus seiner Heimat floh, um Korruptionsprozessen zuvorzukommen, findet bis heute in Ungarn Schutz. Alle EU-Bemühungen, Gruevski an sein Heimatland auszuliefern, wurden von Orban vereitelt. Der langjährige slowenische Ministerpräsident Janez Jansa hatte bereits angefangen, mit ungarischem Geld und nach Orbans Rezept Staat und Wirtschaft umzubauen. Nur seine Abwahl verhinderte im März 2022, dass er dieses Vorhaben zu Ende bringen konnte.

Zahlmeister EU ohne Einfluss

Brüssel hat Milliarden Euro in die Region gepumpt und Zehntausende Diplomaten und Experten geschickt. Trotzdem haben die EU und die USA keine wesentlichen Fortschritte in Richtung Reformen zustande gebracht. Im Gegenteil. Die anfänglichen Erfolge bei der Demokratisierung der einst kommunistischen Länder wurden inzwischen wieder rückgängig gemacht. Der Westen hängt trotz dutzendfacher Enttäuschung der Illusion an, die von ihm unterstützten Nationalisten und Autokraten in Südosteuropa würden am Ende die verlangten Reformen und die Aussöhnung der zerstrittenen Völker in der Region „liefern“. Doch diese Stabilokraten brauchen die nationalen Konflikte, um sich selbst unverzichtbar zu machen und so zu überleben. Daher ist eine Kursänderung nicht zu erwarten. Sollte die EU wirklich an der Eindämmung von Nationalismus, Populismus und Autokratie in Südosteuropa interessiert sein, müsste ein breiter Jugendaustausch zwischen den Balkanländern untereinander organisiert werden, damit sich die Jungen mit eigenen Erfahrungen ein Bild von den Nachbarn machen können. Daneben wäre die „Entwaffnung“ der Schulbücher vonnöten, um die Heranwachsenden nicht mit Nationalismen zu munitionieren. Das Wichtigste wäre jedoch eine wirksame Strategie gegen die toxische mediale Propaganda – sowohl Russlands als auch der heimischen Machthaber. Denn ohne solche kraftvollen Initiativen hat die EU in Südosteuropa auch in Zukunft keine Chance.

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