Kants „Zum ewigen Frieden“ – Anachronismus für eine friedlose Welt?
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Was kann uns ein fast 250 Jahre alter Text wie Immanuel Kants „Zum ewigen Frieden“ (1795), zumal mit einem derart visionären Titel, in der heutigen, von geopolitischen Spannungen und Kriegen geprägten Welt noch lehren? Die These lautet: erstaunlich viel.
Kant entwickelt eine normative Vision einer internationalen Rechts- und Friedensordnung, einer dauerhaft friedlichen Weltordnung, in der Souveränität, Recht und Freiheit miteinander versöhnt werden. Mit ihren sechs Präliminarartikeln, die praktische Regeln zur Vermeidung von Kriegen aufstellen, und drei Definitivartikeln, die institutionelle Voraussetzungen eines dauerhaften Friedens definieren, stellt die Schrift ein ideengeschichtliches Fundament für den Liberalismus in den internationalen Beziehungen dar. Kants Konzept basiert auf der freiwilligen Selbstbindung souveräner Staaten an das Völkerrecht und der Etablierung republikanischer Verfassungen – beides ambitionierte Forderungen, die bis heute kontrovers diskutiert werden.
Unter den Präliminarartikeln ist – neben den Ideen der Abrüstung (3.) und des Kriegsvölkerrechts (6.) – besonders das Prinzip der Nichteinmischung (5.) in seiner Relevanz ungebrochen. Kant fordert die kompromisslose Achtung staatlicher Souveränität, um die „Autonomie aller Staaten“ zu sichern. In der Praxis zeigt die russische Invasion in der Ukraine, dass diese Norm massiv verletzt wird. Aber auch andere Konflikte wie Taiwan oder Kaschmir und auch westliche Interventionen – etwa in Libyen – werfen die Frage auf, wie weit dieses Prinzip gedehnt werden darf. Kants Warnung vor einer Destabilisierung der internationalen Ordnung durch solche „Skandale“ bleibt bestechend aktuell. Gleichzeitig zeigen Fälle der Nicht-Intervention wie in Syrien humanitär katastrophale Folgen und stellen das Prinzip selbst in Frage.
Kants erster Definitivartikel postuliert, dass die „Verfassung in jedem Staate republikanisch“ sein soll, da nur dies zum „ewigen Frieden“ führen könne. Diese Idee bildet die Grundlage für die spätere Theorie des „demokratischen Friedens“, ist aber bis heute kaum universalisierbar. Ende 2023 waren weniger als die Hälfte der 195 Staaten weltweit als liberale Demokratien einzustufen. Angesichts der demokratischen Erosion in vielen Regionen und des Erstarkens nicht-demokratischer Akteure in internationalen Organisationen erscheint Kants Ideal anachronistisch und die Kooperation mit demokratisch defizitären Staaten scheint auf absehbare Zeit eine Notwendigkeit zu bleiben.
Voraussetzungsreich bleibt auch der „Föderalismus freier Staaten“ (2. Definitivartikel). Die Idee eines freiwilligen „Friedensbundes“, der den „Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdammt“, weist interessante Parallelen zum heutigen System der UN auf. Vorauseilend verfügen die UN gar über bindende Instrumente wie Resolutionen und Zwangsmaßnahmen. Sie werden…
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