„Importierter“ Antisemitismus?
Zur Funktionalität eines zweifelhaften Konzepts
Mit dem Schlagwort des „importierten Antisemitismus“ wird in den letzten Jahren vor allem medial über Antisemitismus unter Muslimen und Menschen mit Migrationsgeschichte diskutiert. Welche Vorstellungen liegen der Importthese zugrunde
und welche Funktionen haben sie in öffentlichen Debatten – vor allem vor dem Hintergrund der tatsächlichen Verbreitung von antisemitischen Einstellungen in der deutschen postmigrantischen Gesellschaft?
„Wir haben uns ohne Not Antisemitismus ins Land importiert“, verkündete der bayrische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger im November 2023, einen Monat nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel, in der Talkshow Maischberger. Derselbe Hubert Aiwanger von den Freien Wählern, der noch wenige Monate zuvor in einen Antisemitismusskandal verwickelt war. In einem Flugblatt, welches er vermeintlich als Jugendlicher 1987 verfasst hatte, war damals „der größte Vaterlandsverräter“ gesucht worden; dieser möge sich „im Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch“ melden. Zu den in Aussicht gestellten Gewinnen gehörten unter anderem „ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ oder auch „ein lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab“. Terminschluss: 1.8.88 – die Jahreszahl ein Zahlenkürzel für die Buchstaben HH, also „Heil Hitler“. Nun könnte man argumentieren, und das haben viele auch versucht, dass es sich um eine „Jugendsünde“ des damals 17-Jährigen handele.
Es gab Entschuldigungen, Aiwangers Bruder bekannte sich als angeblicher Autor, Hubert Aiwanger wurde schnell rehabilitiert. Doch die Fokussierung des einen – importierten – Antisemitismus bei gleichzeitiger Abwehr des anderen – hiesigen – ist so symptomatisch für den Umgang mit Antisemitismus in der deutschen Migrationsgesellschaft, dass sich der Blick über Aiwanger hinaus lohnt. Denn er ist nur eine von vielen Stimmen, die die Vorstellung eines „importierten Antisemitismus“ schüren, schon seit vielen Jahren und in unterschiedlichen politischen Lagern. Sie waren während und nach der Ankunft von knapp einer Million Geflüchteten aus Syrien, Irak und Afghanistan 2015/16 vor allem in konservativen Parteien und Zeitungen laut zu vernehmen, doch selbst ein Kreisverband der Partei Die Linke ließ im Mai 2021 auf Facebook, untermalt mit dem Bild eines Minaretts vor düsterem Himmel, verlauten: „Ehrlich machen heißt zugeben: Wir haben Antisemitismus importiert“.
Welcher Import?
Aber was meint eigentlich Import? Einerseits geht es um die Vorstellung, durch die Migrationsbewegungen sei Antisemitismus, quasi wie ein ideologischer Koffer, mit über das Mittelmeer nach Deutschland gekommen. Diesen Koffer hätten die…
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