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Der Autor

Prof. Dr. Tobias ten Brink forscht an der Constructor University in Bremen zu den nationalen und internationalen Auswirkungen des Aufstiegs Chinas.

Die Autorin

Prof. Dr. Wiebke Rabe forscht am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS) an der Universität Bremen zu Chinas Außen­politik.

Imperiale Modernisierung

Der Wandel des chinesischen Entwicklungsmodells

Das Entwicklungsmodell der Volksrepublik hat sich seit den 2010er Jahren stark verändert. Welches sind die nationalen und internationalen Treiber dieses Prozesses?


Das chinesische Entwicklungsmodell hat sich über seine ehemals untergeordnete Rolle als „Werkbank der Welt“ hinausentwickelt und bringt mittlerweile führende Hochtechnologieunternehmen hervor. Auch die Steuerungskapazitäten des autoritären Parteistaates sind gewachsen. Gleichzeitig hat die Volksrepublik China seit den 2010er Jahren erheblich an Einfluss auf globaler Ebene gewonnen. In vielen westlichen Ländern haben diese Prozesse zu Gegenwind geführt. Die chinesischen Machteliten reagieren darauf mit dem Streben nach größerer Autonomie gegenüber etablierten Mächten sowie mit Investitionen in globale kritische Infrastrukturen und zielen ferner auf die Kontrolle von transnationalen ökonomischen Lieferketten ab. Das Resultat: Chinas Entwicklungsmodell hat imperiale Eigenschaften erhalten. Im Folgenden werden einige der zugrunde liegenden inländischen sowie internationalen Treiber beschrieben.

Das „alte“ Entwicklungsmodell: Wachstum und Gewinn

China wird oft entweder als unaufhaltsame Supermacht an der Schwelle zur globalen Vorherrschaft oder als fragiles Land am Rande des Zusammenbruchs wahrgenommen. Diese gegensätzlichen Sichtweisen betonen jeweils nur eine Seite der aktuellen Entwicklung: den Technologieboom und die Entstehung einiger international führender Hochtechnologieunternehmen oder aber die Verlangsamung des BIP-Wachstums in den 2020er Jahren einschließlich einer Schulden- und Immobilienkrise. Letztere Krisenphänomene werden von der Regierung unter Xi Jinping mit dem „alten“ Entwicklungsmodell Chinas in Verbindung gebracht, das auf der Maxime des Wachstums mit allen Mitteln basiert. Dieses wird seit geraumer Zeit durch ein neues Entwicklungsmodell zu ersetzen versucht, in dem Technologie und Autonomie wichtiger sind als Wachstum und Gewinn. Um das zu verstehen, ist zunächst ein Blick auf das bisherige Entwicklungsmodell notwendig.

Das bisherige Entwicklungsmodell ist eng mit China als „Werkstatt der Welt“ seit den 1990er Jahren verknüpft. Das Land profitierte enorm von der liberalen Globalisierung. Diese ermöglichte es ihm, im Rahmen einer Verschiebung des Zentrums der globalen Wertschöpfung in Richtung Ostasien zu einem strategischen Standort zu werden und Teile seiner Wirtschaft auf den Export auszurichten. Bis zur Jahrtausendwende konnte China enorm von Produktivitätsentwicklungen profitieren, die mit einer weitreichenden Industrialisierung einhergingen. Ein weiterer Vorteil war das schier unerschöpfliche Angebot an preisgünstigen und relativ gut ausgebildeten Arbeitskräften.

In den 1990er Jahren fügten sich zentrale Wirtschaftsinstitutionen zu einer nach quantitativen volkswirtschaftlichen Effizienzkriterien erfolgreichen Spielart des staatlich-durchdrungenen Kapitalismus zusammen (ten Brink 2019). Diese Spielart war vor allem anderen durch die Maxime des Wachstums mit allen Mitteln geprägt. Kapitalistische Imperative hatten im Reformprozess erheblich an Bedeutung gewonnen, und die staatlichen Kontrollkapazitäten hatten sich von den Behörden teilweise auf das Management zahlloser Unternehmen verlagert. Während die nunmehr auch gewinnorientierten Staats­unternehmen nach wie vor eine beherrschende Stellung in wichtigen Wirtschaftssektoren behielten, entstanden zugleich vielerorts Privat- und Mischunternehmen.

Im Unterschied zu anderen Staatskapitalismen agierte der chinesische Parteistaat dabei nicht als eine omnipotente, zentral steuernde Einheit – was auch am Mangel zentralstaatlicher Steuerungskapazitäten selbst lag. Staatliche Einflussnahme fand vorwiegend in engen lokalen Wachstumsallianzen statt, typischerweise bestehend aus Vertreter:innen von Lokalregierungen und lokalen Unternehmen. Die Konkurrenz zwischen lokalen Wachstumsallianzen entfaltete eine ökonomisch produktive Wirkung. Bei aller Vielfalt der Produktionsregime in unterschiedlichen Landesteilen erwiesen sich diese dem BIP-Wachstum verpflichteten und untereinander im Wettbewerb stehenden Allianzen als eine förderliche Grundlage des Entwicklungsmodells. Partizipationsrechte der arbeitenden Bevölkerung sah dieses Modell nicht vor.

Einheimische Treiber des Strategiewechsels: Grenzen des alten Entwicklungsmodells

Die Grenzen des bisherigen Modells wurden Mitte bis Ende der 2000er Jahre immer sichtbarer. Wachstumsquellen wie etwa Produktivitätszuwächse aufgrund der Expansion des Industriesektors versiegten langsam. Gleichzeitig traten Nachteile des stark investitionsgetriebenen Modells durch Überinvestitionen etwa im Stahl- und Immobiliensektor oder lokale Überschuldung zutage. Vor allem jedoch bildete sich ein Konsens innerhalb der Parteistaatsführung darüber, dass inländische Unternehmen in Segmenten mit geringer Wertschöpfung feststeckten und von einer geringen technologischen Absorptions- und Innovationskraft geplagt wurden. Inländische Unternehmen verfügten nur über schwache Forschungs- und Entwicklungskapazitäten, was ihre Fähigkeit zur Übernahme ausländischer Technologien untergrub. Dagegen dominierten ausländische Unternehmen Segmente mit hoher Wertschöpfung.

Dieses Ungleichgewicht veranlasste die politische Elite zu einem Strategiewechsel. In Verbindung mit steigenden Bildungsausgaben initiierte sie eine Reihe großer Innovationsprogramme mit ehrgeizigen Zielen, um eine Abkehr von der einseitigen Fokussierung auf das BIP-Wachstum herbeizuführen (Naughton u. a. 2024). Dazu zählen das „National Medium- and Long-Term Program for Science and Technology Development (2006–2020)“ oder „Made in China 2025“ (2015). Sie alle sind Teil einer relativ kohärenten industriepolitischen Strategie, die auf langfristigen Zielen zur Förderung von Innovation, zur Schaffung völlig neuer Industrien (z. B. Elektrofahrzeuge) und zum Einsatz neuer Technologien zur Modernisierung bestehender Industrien (z. B. Halbleiter) basiert. Der Leitgedanke war, dass China ohne starke technologische Fähigkeiten nicht zu einer entwickelten Volkswirtschaft mit hohen Einkommen werden und im internationalen Wettbewerb nicht mithalten könne.

Das „neue“ Entwicklungsmodell: Technologie und Autonomie

Der Gedanke, durch „Upgrading“-Maßnahmen den Sprung zu einer Nation mit hohen Einkommen zu schaffen und dabei genügend Autonomie gegenüber einem als aggressiv wahrgenommenen „US-Hegemonismus“ zu entwickeln, war bereits vor dem Amtsantritt von Xi Jinping im Jahr 2013 Konsens. Unter Xi Jinping hat der Strategiewechsel jedoch volle Gestalt angenommen. Die Xi-Administration hat deutlich gemacht, dass ihr Vermächtnis eine Wirtschaft sein muss, die sich auf „neue hochwertige Produktivkräfte“ konzentriert, also auf High-Tech-Innovationen. Die alte Wirtschaft mit umweltverschmutzenden Industrien, Infrastruktur(über)investitionen und Immobilienspekulation habe dazu beigetragen, China aus der Armut zu führen. Doch diese Phase müsse beendet werden. Das alte Modell wurde dabei mit Korruption und Xis politischen Rivalen in Verbindung gebracht, die inzwischen ins Abseits geraten sind oder Gefängnisstrafen verbüßen.

Die jüngeren industriepolitischen Bemühungen der Staatsbürokratie lassen sich als Versuche interpretieren, Investitionen in innovationsfreudige heimische Industrien zu lenken. Zwar entspricht die Umsetzung nicht immer den ursprünglichen Planungen und es kommt zu Fehlinvestitionen. Es ist zugleich eine Tatsache, dass Unternehmen in Bereichen wie der Internettechnologie, Künstlicher Intelligenz oder Elektroautos durch hohes Lerntempo technologisch aufgeholt haben. Um die in diesem Zusammenhang entwickelten Steuerungskapazitäten zu bewerten, lohnt es sich, an zwei zentrale Erkenntnisse aus der Debatte über Entwicklungsstaaten anzuknüpfen: die Notwendigkeit einer staatlichen Bürokratie, interne Kohärenz zu erreichen, und die Fähigkeit dieser Bürokratie, sowohl Koalitionen zwischen Bürokrat:innen, Geschäftsleuten und Wissenschaftler:innen zu schmieden als auch inländische Unternehmen zu disziplinieren (vgl. Amsden 1989; Haggard 2018). Obwohl es erhebliche Unterschiede zwischen China und früheren Entwicklungsstaaten in Ostasien gibt, und China nach wie vor mit den Problemen der kurzfristigen Wachstums­orientierung konfrontiert ist, hat die chinesische Bürokratie im Vergleich zu anderen aufstrebenden Schwellenländern stärkere Fähigkeiten entwickelt, um eine innovationsgetriebene Entwicklung voranzutreiben (Fu u. a. 2022).

Erstens professionalisierte China die innovations­orientierten Segmente der Bürokratie seit den 2000er Jahren. Dazu gehören die National Development and Reform Commission (NDRC), das Ministry of Science and Technology (MOST) oder das 2008 gegründete und an Bedeutung gewinnende Ministry of Indus­try and Information Technology (MIIT), welches z. B. zentral in der Förderung von Elektrofahrzeugen ist. Im Zuge der Förderung von Innovations- und Indus­triepolitik haben diese Ministerien ihre Zusammenarbeit untereinander verbessern können, obwohl ihre Machtpositionen im Verhältnis zueinander je nach Branche variieren. All dies hat die Patronage und andere, eher ineffektive Methoden zur Steuerung von Industrie- und Technologieangelegenheiten zwar nicht beseitigt, aber doch verringert (Gomes/ten Brink 2023).

Auch im Verhältnis zwischen Zentralregierung und Lokalregierungen haben Reformen stattgefunden, um Altlasten wie die Nichteinhaltung von zentralen Anordnungen zu bekämpfen. So wurde das System zur Überwachung lokaler Beamter verschärft und das Kaderbewertungssystem neu auf Innovationsziele ausgerichtet. Zwei grundlegende Probleme wurden damit jedoch nicht gelöst. Einerseits befördert die fortdauernde Diskrepanz zwischen Einnahmen und Ausgaben auf lokaler Ebene weiterhin die Überschuldung. Andererseits koexistieren sich widersprechende Zielvorgaben, anhand derer die Performance lokaler Bürokrat:innen bewertet wird, und die jeweils mit den Zielen des alten bzw. neuen Entwicklungsmodells verbunden sind. Indem Lokalregierungen beispielsweise gleichzeitig das Ziel zur Steigerung von Haushaltseinnahmen mit allen Mitteln (alte Zielvorgabe) und das der Steigerung von inländischer High-Tech-Produktion (neue Zielvorgabe) verfolgten, zogen lokale Bürokratien umfangreiche ausländische High-Tech-Investitionen an und behinderten so die Entwicklung einheimischer Unternehmen.

Zweitens ist Lernfähigkeit und Kompetenzaufbau auch im Bereich der Bildung von Koalitionen zwischen Bürokrat:innen, Geschäftsleuten und Wissenschaftler:innen festzustellen. Im Vergleich zu den 1990er Jahren hat sich die Bedeutung von Konsultationsmechanismen zwischen den genannten Gruppen verstärkt. Diese sind für den Austausch branchenspezifischer Informationen und den Wissenstransfer entscheidend. Gleichzeitig lässt sich eine effizientere Integration von Wissenschafts- und Technologieorganisationen beobachten, in der Regel in Form von Innovationsplattformen. Der Trend geht also von Wachstumsallianzen zu „Upgrading“-Koalitionen. Dabei zielt der Parteistaat auf die Subordination großer Unternehmen.

Den nationalen Entwicklungszielen untergeordnet: Der Unternehmenssektor unter Xi

Lokale Bürokratien werden nun stärker auf Innovationsziele hin überwacht – und Unternehmen durch eine Reihe gezielter Maßnahmen diszipliniert. So werden Vorschriften erlassen, um Unternehmen zu ermutigen, in die Forschung zu investieren, sich von Sektoren wie Immobilien oder Unterhaltung ab- und der High-Tech-Fertigung zuzuwenden. Tatsächlich ist dies ein Teil der Rechtfertigung für Xis hartes Durchgreifen gegen private Unternehmen im Jahr 2021 gewesen. Während Branchen mit begrenzten Aussichten auf technologisches Upgrading, wie etwa die Internet-Verbraucherbranche, sanktioniert wurden – darunter auch Alibaba oder Tencent –, blieb die High-Tech-Produktion weitgehend verschont. Das „harte Durchgreifen“ war also kein wahlloser Angriff auf Privatunternehmen an sich, sondern richtete sich gegen bestimmte Wirtschaftszweige. Alibaba und Tencent haben inzwischen ihre eigene Chipproduktion hochgefahren und greifen für bestimmte, auch fortgeschrittene Chipgenerationen verstärkt auf lokale Hersteller zurück. Das harte Durchgreifen soll große Unternehmen dazu zwingen, ihre Geschäftsmodelle an den natio­nalen Zielen auszurichten. Dabei unterdrückt der Parteistaat nicht Marktkräfte per se. Die Förderung von Elektroautos und deren Internationalisierung ist ein Beispiel. Durch umfangreiche staatliche Unterstützung konnte eine neue Branche entstehen, die einer Reihe von privaten Unternehmen neue Gewinnmöglichkeiten eröffnete. Mehr Staat bedeutet hier nicht weniger Markt. Vielmehr will der Staat steuern, welche Märkte entstehen oder gefördert werden. Jene Bereiche der Wirtschaft, die sich den erklärten Innovationszielen der Partei unterordnen, können daher trotz der allgemein verschärften Kontrolle und Überwachung bislang in einem relativ unternehmensfreundlichen Umfeld agieren.

Das neue Entwicklungsmodell erzeugt dennoch Reibungen zwischen Parteistaat und Unternehmen bzw. nationalen wie internationalen Kapitalinvestoren. Letztere sind mit der Einschränkung ihres Handlungsspielraums unzufrieden. Ausländische Unternehmen merken, dass eine Folge Chinas verbesserter technologischer Leistungsfähigkeit ein zurückgehender Bedarf an ausländischen Investitionen und Technologien ist.

Internationale Treiber des Strategiewechsels: Globaler Einflussgewinn und internationaler Gegenwind

Seit den 2010er Jahren konnte die Parteistaats­bürokratie ihre Steuerungskapazitäten und Kontrollmacht nicht nur im Inland ausweiten. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich ebenso auf internationaler Ebene beobachten. Auch hier ist das Tempo des Wandels als atemberaubend hoch zu bezeichnen. In den 2000er Jahren war China damit beschäftigt, sich in das westlich-liberale Institutionensystem zu integrieren, wie exemplarisch Chinas WTO-Beitritt (2001) zeigte. Seit den 2010er Jahren etablieren Staatsführung und Wirtschaftseliten zunehmend Einfluss über Staaten, vor allem in Asien. Hinzu kam eine de-facto-Kontrolle über ausländische Infrastrukturen wie Häfen und Datenzentren und über transnationale Wertschöpfungsketten im Rahmen etwa der Belt-and-Road-Initiative (BRI) – häufig jenseits des etablierten Institutionensystems. Dieser Strategiewechsel manifestiert sich auch in einem unnachgiebigen Verhalten gegenüber Taiwan und dem Aufbau hierarchischer „Partnerschaften“ mit Staaten im sogenannten Globalen Süden. Auf eine Phase der Liberalisierung von Auslandsinvestitionen in den 2000er Jahren folgte eine stärkere sektorale Steuerung. Einige Auslandsinvestitionen, zum Beispiel in Immobilien, werden wieder stärker überwacht, andere, so etwa in High-Tech-Industrien und dem Rohstoffsektor, werden hingegen gefördert (Rabe 2023).

Diese Entwicklung korrespondiert mit einer Verlagerung der Handels- und Investitionstätigkeit von den am weitesten entwickelten westlichen Volkswirtschaften nach Asien und in andere Volkswirtschaften des Globalen Südens. Für die größten Volkswirtschaften des Globalen Südens wie Brasilien, Argentinien und die Türkei, also die sogenannten „Transactional 25“ (Economist 2023), ist China mittlerweile von zentraler Bedeutung. Noch bis 2017/18 waren die EU und die USA die wichtigsten Handelspartner für diese T-25-Volkswirtschaften. China überholte die EU im Jahr 2019 und hat seit 2020 mehr Handel mit den T-25-Ländern betrieben als die USA. Dabei hat sich die Handelsstruktur verändert. Der Trend geht dahin, mehr Primärprodukte (Rohstoffe) nach China zu importieren und mehr hochwertige Fertigwaren (z. B. IT-Produkte, Elektroautos) zu exportieren. So konnte China sich Bergbaulizenzen zum Abbau mineralischer Rohstoffe sichern und mithilfe von technologischem Knowhow zudem eine zentrale Stellung in der Produktion von kritischen Rohstoffen erlangen. Dies hat Asymmetrien in Chinas Beziehungen etwa zu seinen Nachbarländern gestärkt.

Darüber hinaus haben entlang der BRI die Abhängigkeiten von Chinas Energie- und Infrastrukturinvestitionen zugenommen, einschließlich der Abhängigkeiten im Digitalsektor, z. B. in Bezug auf IT-Hardware oder 5G-Infrastruktur. Die Kontrolle über Infrastrukturen und Rohstoff-Lieferketten wird in Peking zunehmend als Voraussetzung für die eigene wirtschaftliche Entwicklung und nationale Sicherheit gesehen. Zugleich ist die Volksrepublik seit den 2010er Jahren verstärkt internationalen Gegenmaßnahmen ausgesetzt. Ein internationaler Treiber des Strategiewechsels war die Bildung eines chinakritischen Umfeldes – und zwar noch vor dem „Handels- und Technologiekrieg“ ab 2018. So wurde der „Pivot to Asia“ der US-Regierung ab 2011 in China als feindliche Einkreisung bewertet. Da insbesondere die USA wichtige Engpässe in der Weltwirtschaft und in internationalen Institutionen kontrollieren, können sie diese, so die Einschätzung, als „Waffen“ gegen die Volksrepublik einsetzen (vgl. auch Farrell/Newman 2019).

Autonomie, Abhängigkeit und neue Imperialität

Die chinesischen Eliten haben die entsprechenden Schwächen ihrer Wirtschaft erkannt und versuchen, diese so weit wie möglich zu reduzieren. Die wichtigste Reaktion ist der Aufbau von mehr wirtschaftlicher, politischer, technologischer, institutioneller und intellektueller Autonomie. Autonomie kann hier definiert werden als die – verbesserte – Fähigkeit, Entscheidungen unabhängig von externen Kräften treffen zu können, insbesondere unabhängig von anderen Großmächten, von westlich geführten internationalen Institutionen, von externer kritischer Infrastruktur und ausländischem Wissen. China will sich hiermit unangreifbar machen. In Verbindung mit den gewachsenen Steuerungskapazitäten des auf Machtzentralisierung und Unterordnung des Unternehmenssektors fokussierten Parteistaates führt dies zur Entwicklung eines neuen Imperiums.

Im Unterschied zur territorialen Expansionslogik früherer Kolonialmächte etabliert das neue impe­riale Gebilde vor allem eine informelle Kontrolle über transnationale Wirtschaftsstrukturen, zumeist außerhalb der westlichen Ökonomien. Chinesische Akteure bauen dabei – gestützt auf spezifische Tauschgeschäfte, etwa den Zugang zu Ressourcen und Clubgütern gegen die Bereitstellung von Loyalität – enge Verbindungen zu ausländischen Partnern auf (vgl. Nexon/Wright 2007 sowie Schubert 2021, die zudem Unterschiede zwischen imperialen und hegemonialen Praktiken herausarbeiten). Zentraler Bestandteil der imperialen Modernisierung ist die stetig lernende und sich den nationalen wie internationalen Herausforderungen anpassende Staatsbürokratie. Die internationale Lage, die von der Regierung als äußerst instabil wahrgenommen wird, verstärkt dabei das Bestreben, auch auf globaler Ebene mehr Einfluss und Kontrolle auszuüben, wie zum Beispiel durch zielgerichtete Investitionen in ausgewählte Länder. Und: Der für eine imperiale Wirtschaft charakteristische großräumige wirtschaftliche Austausch und Ressourcentransfer lässt sich – so die (unausgesprochene) Annahme – ­zumindest in Teilbereichen unter alleiniger chinesischer Führung effizienter bewerkstelligen als im kräftezehrenden Verbund mit anderen Mächten.

Die direkte Konsequenz: Der Parteistaat sowie staatsnahe Unternehmen haben Maßnahmen ergriffen, um die Abhängigkeit von ausländischen Zulieferern zu reduzieren und die wirtschaftlichen Risiken von internationalen Wirtschaftskonflikten abzufedern. Lieferketten sollen „de-amerikanisiert“ und unter chinesische Kontrolle gebracht werden. Unternehmen passen ihre Auslandsinvestitionen der geopolitischen Lage an, um Handelsbarrieren zu umgehen und ihre Zugänge zu westlichen Märkten zu erhalten, wie im Bereich der Solarindustrie. Und Unternehmen wie Huawei oder SMIC erhalten staatliche Unterstützung, um kritische Technologien für Chipdesign und Halbleiterfertigung unabhängig von westlichen Anbietern zu produzieren. In diesem Zusammenhang beschwört Xi Jinping zugleich die „patriotischen Unternehmer“ der Qing-Dynastie als neue Vorbilder der Nation und bezieht sich affirmativ auf die imperiale Geschichte des Landes (Hung 2024).

Eine weitere Folge: Die Stärkung von Autonomie und das hiermit verwobene Ziel stärkerer Kontrollmacht auch auf inter- und transnationaler Ebene fördert die faktische Abhängigkeit anderer Staaten, Unternehmen und Plattformen. So dient der Aufbau einer Finanzinfrastruktur mit neuen, von China geführten plurilateralen Institutionen und Bemühungen zur De-Dollarisierung bei strategisch wichtigen Rohstoffen wie Öl oder Eisenerz dazu, die Aktivitäten des Landes vor Verwundbarkeit und potenziellen US-Finanzsanktionen zu schützen. Im Zuge dieses Autonomiestrebens hat sich China zu einem neuen Knotenpunkt in Finanznetzwerken mit Staaten wie den BRICS+ und wichtigen Vermittlern für die Preisgestaltung von Rohstoffen wie Saudi Aramco oder Handelsplattformen wie Moscow Exchange und Abu Dhabi Global Markets entwickelt. Die Bemühungen bedrohen nicht die von den USA dominierte globale Finanzordnung und die Dollar-Hegemonie. Aber sie binden eine zunehmende Zahl von Akteuren in chinesische Finanzinfrastrukturen ein und machen sie von ihnen abhängig – ob diese Zentrum-Peripherie-Beziehungen nun intendiert sind oder nicht.

Im Zuge dessen soll auch die Außenwirtschaftspolitik modernisiert werden. Dies umfasst den anspruchsvollen Plan, die Autorität über die internationalen Aktivitäten von staatlichen und privaten Unternehmen zu stärken bzw. Konsultationsmechanismen mit Unternehmen anzupassen. Konsultationen zum Beispiel zu den Steuer- und Versicherungssystemen anderer Länder finden unter anderem zwischen Provinzbehörden, Unternehmen und chinesischen Geldgebern statt (Rabe 2023). Denn bislang – im Widerspruch zu älteren Vorstellungen einer einheitlichen Vorgehensweise Chinas – konkurrierten nicht nur chinesische Privatunternehmen und Provinzen, sondern auch Staatsunternehmen auf mitunter nachteilige Weise auf ausländischen Märkten miteinander. Die Modernisierung ist also noch lückenhaft. Zum Beispiel wurde im Rahmen der BRI noch keine einheitliche Regierungsabteilung oder funktionierende interministerielle Zusammenarbeit zu ihrer Verwaltung hervorgebracht.

Ausblick

Viele dieser Bemühungen auf internationaler Ebene beginnen erst jetzt, ihre Wirkung zu entfalten, was auf die Notwendigkeit systematischer Forschung zur imperialen Modernisierung hinweist. Einige Ziele werden möglicherweise nicht oder nur teilweise erreicht und/oder durch politisches Lernen angepasst. Die jüngste Neuausrichtung der BRI-Kreditaktivitäten zur Vermeidung von „Schuldenfallen“ oder Investitionen, die nicht im Einklang mit Nachhaltigkeitszielen stehen, verweist auf diese Lernprozesse („BRI 2.0“).

Ebenso muss weiter untersucht werden, ob und wie sich das neue Entwicklungsmodell in der inländischen Wirtschaft durchsetzt. Vieles spricht derzeit dafür, dass sich eine Dynamik entfaltet, in der zwar der Technologiesektor boomt, die übrige Wirtschaft aber hinterherhinkt. Auch ein starker Parteistaat kann nicht die Augen davor verschließen, dass die „alte“ und die „neue“ Wirtschaft eng miteinander verflochten sind. Wenn die alte Wirtschaft zu sehr ins Stocken gerät, behindert dies unweigerlich den Aufstieg der neuen Wirtschaft. Ein Beispiel dafür ist die Immobilienkrise, die Arbeitsplätze und Vermögen vieler Haushalte vernichtet und die Verbraucher zu Ausgabenkürzungen veranlasst. Infolgedessen waren einige High-Tech-Unternehmen gezwungen, unverkaufte Produkte wie Elektroautos zu exportieren, was die Handelsspannungen mit den USA und der EU verschärfte, die China vorwerfen, Überkapazitäten auf ihre Märkte zu werfen. Der Übergang zu einer High-Tech-Wirtschaft erfordert ein robustes BIP-Wachstum, solide Staatsfinanzen und ein nachhaltiges Wirtschaften, damit die Regierung in die Indus­triepolitik investieren, aber auch Arbeitnehmer:innen umschulen und soziale Sicherheitsnetze für diejenigen ausbauen kann, die zurückbleiben. Gelingt dies nicht, droht mehr Instabilität.


Literatur

Amsden, Alice H. 1989: Asia’s next giant: South Korea and late industrialization. Oxford: Oxford University Press.

Economist 2023: Can the West win over the rest? April 15, https://www.economist.com/leaders/2023/04/13/can-the-west-win-over-the-rest [letzter Zugriff: 20.2.2024].

Farrell, Henry/Newman, Abraham 2019: Weaponized ­Interdependence: How Global Economic Networks Shape State Coercion. In: International Security, 44(1), S. 42–79.

Fu, Xiaolan/McKern, Bruce/Chen, Jin 2022: The Oxford Handbook of China Innovation. New York: Oxford ­University Press.

Gomes, Alexandre d. P./ten Brink, Tobias 2023: A Chinese Bureaucracy for Innovation-Driven Development? Cambridge: Cambridge University Press.

Haggard, Stephen 2018: Developmental States. Cambridge: Cambridge University Press.

Hung, Ho-fung 2024: China’s ‘state capitalism’ in comparative and historical perspectives, Economy and Society, DOI: 10.1080/03085147.2024.2368364

Naughton, Barry/Xiao, Siwen/Xu, Yaosheng 2024: Decoding China’s Technology and Industrial Policy: Seven Terms You Need to Know. IGCC Policy Brief.

Nexon, Daniel H./Wright, Thomas 2007: What’s at Stake in the American Empire Debate. In: American Political Science Review, 101(2), S. 253–271.

Rabe, Wiebke Antonia 2023: China’s Provinces Go Global: Internationalization under Guided Autonomy. New York: Routledge.

Schubert, Gunter 2021: Chinas Zukunft – Imperium, nicht Hegemonie. In: Leviathan, 49(4), S. 449–559.

ten Brink, Tobias 2019: China’s Capitalism: A Paradoxical Route to Economic Prosperity. Philadelphia: University of Pennsylvania Press.