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Der Autor

PD Dr. Janosch Schobin ist Soziologe. Er forscht vor allem zur Soziologie der Freundschaft sowie zum Thema soziale Isolation. U. a. hat er ein Gutachten zu Einsamkeit und gesellschaftlichem Wandel für die Enquete-­Kommission IV des Landtags NRW verfasst. Momentan arbeitet er an der Universität Kassel.

Einsamkeit als gesellschaftliches Problem

Ein Überblick


Einsamkeit – Typisierungen

Einsamkeit ist ein vielschichtiges Phänomen. Die Menschen erfahren sie mitunter ganz unterschiedlich. Im wissenschaftlichen Diskurs wird darunter aktuell die meist unangenehme subjektive Erfahrung eines Missverhältnisses zwischen den tatsächlichen Beziehungen einer Person und ihren Beziehungsbedürfnissen sowie -wünschen verstanden (Luhmann 2022). Als Arbeitsdefinition wird dieses Verständnis der Einsamkeit breit geteilt. Unter der oberflächlichen Einigkeit schlummern jedoch wesentliche Differenzen über die Bedeutung des Wortes. In qualitativer Forschung kommt das besonders deutlich zum Ausdruck. So unterscheiden sich die Einsamkeitsbilder sehr stark, die Menschen von ihren Einsamkeitsempfindungen zeichnen. Vom fast schon idyllischen Blümlein in der Ruhe einer stillen Wüste über das schlichte Nichts eines endlosen weißen Raums à la Matrix bis hin zu klaustrophobischen Bildern des hilflos Eingesperrt- und Entwertetseins äußert sich dort eine disparate Bandbreite. Aber auch durch die nüchternere Brille der Psychologie betrachtet variieren Einsamkeitsempfindungen zwischen Menschen massiv hinsichtlich ihrer Intensität, ihrer Frequenz und ihrer Dauer. Einsamkeit kann eine unangenehme Empfindung sein, die wie ein stechender Schmerz aufgrund einer punktuellen Zurückweisung oder Trennung akut und situativ auftritt, sie kann, als unangenehm drückendes Unwohlsein, zu regelmäßigen Zeitpunkten etwa aufgrund psychischer Erkrankungen immer wiederkehren, und sie kann wie ein amputiertes Bein ein phantasmales Dauergefühl des Mangels erzeugen, weil ein Beziehungsverlust nicht überwunden werden kann. Gesprochen wird dann technischer von situativer, episodischer und chronischer Einsamkeit, wobei die Grenzen zwischen diesen Typen flüssig sind und unterschlagen, wie unterschiedlich die Färbungen des Einsamseins sein können (Luhmann 2022).

Andere Typisierungen der Arten von Einsamkeit setzen dagegen bei der Frage an, welchen Mangel an und in sozialen Beziehungen die Person empfindet. Am weitesten verbreitet ist hier in der Forschung die Unterscheidung zwischen der emotionalen und der sozialen Einsamkeit (siehe dazu auch den Beitrag von Sabine Diabaté u. a. in diesem Heft). Wo im ersten Fall primäre Bindungen fehlen oder qualitativ beschädigt sind, sind es im zweiten vor allem Beziehungen der Anregung und der Anerkennung, an denen ein Mangel empfunden wird. Das wissenschaftliche Unterscheidungsraster ist jedoch mittlerweile viel feiner. So wächst etwa immer mehr die Forschung zur sogenannten existenziellen Einsamkeit, die ein elementares Gefühl der „Weltlosigkeit“ adressiert: die überwältigende Empfindung, auf fundamentale Weise ein Einzelwesen zu sein, das keine Verbindung zu einer geteilten Mitwelt hat (Schauer 2023). Diese Art der Einsamkeit wird heute vor allem am Lebensende in Studien zur palliativen Versorgung von Sterbenden untersucht. Eng verwandt mit der „existenziellen Einsamkeit“ ist die sogenannte „kollektive Einsamkeit“, die sich in dem Mangelgefühl äußert, zu keinem größeren sozialen Ganzen dazuzugehören (Luhmann 2022). Sie wird mehr und mehr im Rahmen der Erforschung der politischen Auswirkungen der Vereinsamung zum Thema, die in der politologischen und soziologischen Forschung aktuell Konjunktur hat, weil davon ausgegangen wird, dass diese Art der Einsamkeit für populistische Versprechungen anfällig macht (siehe dazu den Beitrag von Alexander Langenkamp in diesem Heft). Eher am Rande, aber doch immer häufiger, sind der Vollständigkeit halber die physische und die sexuelle Einsamkeit zu nennen. Beide Formen überlappen sich und ähneln sich darin, dass die Person einen Mangel an körperlicher Berührung und sexueller Befriedigung empfindet. Sie werden in jüngerer Zeit in Studien über das Incel-Phänomen vermehrt diskutiert (Incel = Abkürzung für involuntary celibate/unfreiwillig zölibatär).

Die Vielzahl der Unterscheidungen ruft unweigerlich eine Kontroverse auf den Plan. Es fragt sich bei all den Arten der Einsamkeit, ob es sich bei diesen im Kern um die gleiche Empfindung handelt. Ist das Gefühl, das man hat, wenn sich ein geliebter Mensch von einem unverhofft trennt, das gleiche wie das einer Person, die keine Freunde hat, mit denen sie nach der Arbeit ein wenig Spaß haben kann? Ist die Empfindung, die sich – mit Martin Heidegger gesprochen – im Vorlaufen in den eigenen Tod einstellt, die gleiche, die ein junger heterosexueller Mann hat, den noch nie eine Frau zärtlich berührt hat? Etwas technischer ausgedrückt: Verbirgt sich hinter all den Arten des Einsamseins das gleiche psychische Konstrukt? Diese Debatte wurde lange und wird noch immer weitgehend fruchtlos geführt. Was sich Stichfestes bisher dazu sagen lässt: Die unterschiedlichen Arten der Einsamkeit können psychometrisch zumeist erfolgreich methodisch unterschieden und erfasst werden, verhalten sich aber mit Blick auf die Prognose anderer Dinge, wie etwa dem subjektiven Wohlbefinden oder der Gesundheit der Person, sehr ähnlich. Oder anders ausgedrückt: Menschen können erstens unterschiedliche Arten des Einsamseins konsistent in Fragebögen zum Ausdruck bringen. Wenn es wirklich unterschiedliche Dinge sein sollten, sind sie in ihren Konsequenzen für die Person zweitens nur schwer zu unterscheiden.


Einsamkeit als politisches Thema

Besonders die Konsequenzen der Einsamkeit für die Einzelnen haben diese in den letzten zehn Jahren mehr und mehr zu einem politischen Thema gemacht. Zumindest in der OECD-Welt – hauptsächlich wohlhabende, demokratische Staaten mit marktwirtschaftlichen Strukturen – kann von einem Trend hin zu einer Politik gegen Einsamkeit gesprochen werden. Medial besonders wirksam war hier die Etablierung eines „Einsamkeitsministeriums“ im Jahr 2018, das eine hochrangige Stelle in der britischen Regierung mit dem Thema betraute. Eine ähnliche Stelle wurde später in Japan eingerichtet (siehe dazu auch das Interview mit Evelyn Schulz). Andere OECD-Länder gingen andere, aber ähnliche Wege. In Deutschland etwa wurde auf Bundesebene eine Strategie gegen Einsamkeit entwickelt, die eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen bündelt, während einzelne Bundesländer wie NRW, ähnlich wie Japan, eine dedizierte Stelle für das Thema hochrangig eingerichtet haben.

Bei aller Neuheit der Politik gegen Einsamkeit ist jedoch zu konstatieren, dass die zugrunde liegenden Befunde alt und lange bekannt sind. Dass einsame Menschen früher sterben und erhöhte Stresshormonkonzentrationen aufweisen, war bereits in den 1980er-Jahren bekannt. Der statistische Zusammenhang zwischen sozialer Isolation und Herzkrankheiten wurde spätestens in den 1970ern erforscht, und dass Einsamkeitsbelastungen mit einer Eintrübung des subjektiven Wohlbefindens der Personen einhergehen, war mindestens ebenso lange bekannt. Neu sind demnach nicht die Befunde, sondern die Deutung, dass Einsamkeit ein sozial-, gesundheits- und gesellschaftspolitisch relevantes Thema darstellt.

Das hängt nicht zuletzt mit dem Umstand zusammen, dass vielfach angenommen wird, dass die Gegenwartsgesellschaften der Spätmoderne – gemeint ist dabei in etwa die Zeit ab dem Ende des Kalten Krieges – immer einsamer werden. Dies artikuliert sich im öffentlichen Diskurs in Begriffsschöpfungen wie der „Einsamkeitsepidemie“ (Jandl 2024) oder dem „Zeitalter der Einsamkeit“ (Hertz 2021). Die Sprachbilder suggerieren, dass es in den Gegenwartsgesellschaften zu einem bedeutsamen Anstieg der Einsamkeitsbelastungen gekommen ist.


Nimmt Einsamkeit zu? Wissenschaftliche Debatte

In der Forschung besteht über diese Frage große Uneinigkeit. Genau genommen ist die Frage, ob die Einsamkeit in modernen Gegenwartsgesellschaften eher zu- oder abgenommen hat, schon deshalb schwer zu beantworten, weil die Datenlage sehr schlecht ist. Ein Blick etwa auf die längsten Zeitreihen, die für die Bundesrepublik seit Anfang der 1990er-Jahre die Einsamkeitsbelastungen der Bevölkerung vergleichbar erfassen, zeigt, dass diese in der Tendenz eher stabil waren oder sogar ein wenig sanken – bis zur Corona-Epidemie (Schobin u. a. 2024). Für die meisten anderen OECD-Länder sind die Datenreihen – mit der Ausnahme Norwegens – noch kürzer und noch weniger aussagekräftig.

Die Frage wird daher weniger auf empirischer Basis als auf theoretischer Ebene geführt, indem indirekt über die Ursachen von Einsamkeitsbelastungen auf deren Verbreitung in der Gesellschaft geschlossen wird. So wird versucht, aus anderen Makrotrends wie der Individualisierung oder der Alterung von Gesellschaften sowie aus synchronen empirischen Befunden zur Verbreitung von Einsamkeit zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und Gesellschaften Belege für die Zu- oder Abnahme der Prävalenz von Einsamkeitsbelastungen zu finden. Das klingt kompliziert, lässt sich aber an einer der bekanntesten Thesen, die für die Zunahme von Einsamkeitsbelastungen in spätmodernen Gesellschaften spricht, gut illustrieren: der Alterungsthese. Sie besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil umfasst die unbestrittene Beobachtung, dass spätmoderne Gesellschaften altern. Der zweite Teil stützt sich auf die vor allem aus Querschnittsdaten gewonnene Beobachtung, dass Einsamkeitsbelastungen im hohen Alter sowie in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter am wahrscheinlichsten sind.

Daraus ergibt sich ein dreiphasiges Prozessmodell: In Gesellschaften mit einer jungen Altersstruktur, wie sie in Teilen Afrikas oder Lateinamerikas vorherrscht, treten Einsamkeitsbelastungen theoretisch häufiger auf. In Gesellschaften mit einer mittleren Altersstruktur, die durch sinkende Geburtenraten gekennzeichnet sind, nimmt die Einsamkeit dann theoretisch ab, weil es anteilig wenige junge und wenige hochaltrige Menschen gibt. In der letzten Phase, in alternden Gesellschaften wie etwa in Deutschland, nimmt dann der Anteil der hochbetagten Menschen stark zu, was – so die These – zu einer Zunahme der Einsamkeit führen sollte. Das Modell funktioniert allerdings nur, wenn die Altersverteilung der Einsamkeitsbelastungen statisch ist. Tritt beispielsweise die Einsamkeit in der Hochaltrigkeit in alternden Gesellschaften immer später ein, ist das Modell hinfällig.

Andere Thesen, die für eine Zunahme der Einsamkeitsbelastungen in der Spätmoderne sprechen, setzen an Veränderungen familiärer Strukturen und sozialen Netzwerken der Menschen an, die mit Individualisierungsprozessen einhergehen. Ein zentraler Aspekt dieser These ist auch hier die demografische Entwicklung. Mit sinkenden Geburtenraten nimmt die Anzahl von Verwandten und Familienmitgliedern schnell ab. Ein Einzelkind, das von zwei Einzelkindern abstammt, hat keine Geschwister, Onkel, Tanten, Cousins oder Cousinen. Die Menschen leben häufiger allein (siehe das Interview mit Katja Kullmann).

Statt Beziehungen, die auf Geburt und Abstammung basieren, werden soziale Netzwerke zentraler, die auf Freundschaften und Bekanntschaften gründen. Diese müssen Menschen jedoch selbstständig aufbauen, pflegen und erweitern – oft ein Leben lang. In der sogenannten „Netzwerkgesellschaft“ (Castells 2010) werden Beziehungen nicht mehr nur durch ­Geburten und Todesfälle geprägt, sondern durch die schnelle Bildung und Auflösung sozialer Kontakte. Diese Veränderung birgt – so die These – neue Einsamkeitsrisiken, die Beziehungen sind oft flüchtiger und weniger stabil. Beispiele dafür sind hohe Scheidungsraten und häufige Veränderungen im Freundeskreis.

Damit einher geht dann, so die Vermutung, eine Abflachungsdynamik. Die Beziehungen verlieren an Tiefe und werden wie Konsumgüter behandelt, die z. B. auf Online-Plattformen ,gekauft‘ und dort durch soziale Interaktionen ,aktualisiert‘ werden (siehe dazu den Beitrag von Heike Ohlbrecht und Daniel Ewert in diesem Heft). Diese Entwicklung wird auch als „Kommodifizierungsthese“ bezeichnet (Bierhoff 2017), gegen die allerdings immer einzuwenden ist, dass es sehr fehleranfällig ist, aus den ,Produktionsbedingungen‘ von ,Gegenständen‘ auf ihre Qualität zu schließen: Wer kennt ihn nicht, den billigen Löffel aus der Massenfertigung, der ein ganzes Leben hält?

Zuletzt wird vermutet, dass in spätmodernen Gesellschaften vor allem die kollektive Einsamkeit im Rahmen der Krise der repräsentativen Demokratie zunimmt. Hannah Arendt (1973) ist die Namenspatin der These, dass in der Spätmoderne die kollektive Einsamkeit wächst, weil sie bereits in ihrem Buch „The Origins of Totalitarianism“ beschrieb, wie in den Zwischenkriegsjahren (ca. 1918–1939) ein wachsendes Gefühl von Vereinsamung und Entfremdung in Westeuropa die Grundlage für totalitäre Bewegungen schuf.

Die Aktualität der Arendt-These speist sich dabei aus der Beobachtung, dass in spätmodernen Gegenwartsgesellschaften das Vertrauen in die organisierte Politik schwindet und Mechanismen, die Demokratien legitimieren, unter Druck geraten. Ein Beispiel für diese Erosion ist der Rückgang der Wahlbeteiligung in Europa und den USA seit den 1990er-Jahren. Immer mehr Menschen fühlen sich politisch ,heimatlos‘, sie sind demnach zunehmend isoliert und entwurzelt, was sich etwa in einer abnehmenden Parteibindung artikuliert. So entsteht – in den Begriffen Hannah Arendts – immer mehr ein „Mensch ohne Welt“ (Schauer 2023).

Die Destabilisierung der neuen Weltordnung nach dem Kalten Krieg kann aber auch deshalb als Ausgangspunkt für die Zunahme globaler Einsamkeit gesehen werden, weil sie eine der gesellschaftlichen Einsamkeitsursachen schlechthin wahrscheinlicher macht: Kriege und damit verbundene Flucht und Vertreibung. Kaum eine soziale Gruppe ist in Deutschland aktuell einsamer als die der Menschen mit Fluchterfahrung (Schobin u. a. 2024, siehe dazu auch den Beitrag von Thomas Geisen in diesem Heft).


Einsamkeitsdämpfende Effekte

Gegen die Zunahme der Einsamkeit in spätmodernen Gesellschaften sind im Gegenzug einige eng verwandte Überlegungen angeführt worden. Vermutet werden in diesem Zusammenhang vor allem drei einsamkeitsdämpfende Effekte langer Dauer, die in den Gegenwartsgesellschaften zur Entfaltung kommen: die „Emanzipationsdividende“, die „Wohlstandsdividende“ und die „Inklusionsdividende“. Gemein ist diesen Thesen, dass sie eine Verbindung zwischen dem Grad der Liberalisierung einer Gesellschaft und dem Qualitätsniveau persönlicher Beziehungen herstellen. Im Kern basieren sie auf der Überlegung, dass spätmoderne Gesellschaften die Bedingungen für hochqualitative Nahbeziehungen – wie etwa den Schutz vor intimer Gewalt und Armut – weitreichender und effektiver gewährleisten als hoch- und frühmoderne Gesellschaften. Gerade solche Beziehungen schützen nach Maßgabe der psychologischen Forschung besonders effektiv vor Einsamkeit, insbesondere vor sozialer und emotionaler Einsamkeit. In diesem Kontext nimmt die These von der „Wohlstands­dividende“ an, dass sich der zunehmende Wohlstand in spätmodernen Gesellschaften individualpsychologisch als eine Abnahme körperlicher, psychischer und sozialer Stressoren artikuliert und so auch Einsamkeitsempfindungen zurückdrängt. Empirisch ist das plausibel, da Armutsbelastungen zumindest in westlichen Gesellschaften in der Regel statistisch mit Einsamkeitsbelastungen korrelieren (siehe den Beitrag von Igloffstein u. a. in diesem Heft). Daraus resultiert die Vermutung: Mit dem Entstehen einer globalen Mittelschicht geht auch die globale Einsamkeit immer mehr dem Ende zu.

Ähnlich argumentiert auch die These der „Emanzipationsdividende“. Sie sieht den einsamkeitsdäm­pfenden Mechanismus jedoch weniger in der wohlstandsbedingten Abnahme sozialer Stressoren, sondern mehr in der abnehmenden Ungleichheit zwischen Männern und Frauen. Dass Emanzipationsprozesse vor Einsamkeit schützen, wird darauf zurückgeführt, dass sie sich nicht zuletzt in einer zunehmenden rechtlichen Garantie individueller Kontrolle über enge Bindungen artikulieren. Aus dieser erhöhten Kontrolle resultiert ein allgemein höheres Qualitätsniveau der Familienbeziehungen – etwa weil Partner freier gewählt, schlechte Beziehungen schneller verlassen und soziale Belastungen in Partnerschaften besser verteilt werden. Eng verwandt mit den Thesen der „Emanzipations-“ und der „Wohlstandsdividende“ ist die These der „Inklusionsdividende“. Sie geht davon aus, dass es im Rahmen der zunehmenden Durchsetzung universeller Menschenrechte und der wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz sozialer Diversität zu einem generellen Abbau von Diskriminierung kommt. Das trägt, so die These, zur Abnahme von Einsamkeitsgefühlen bei, weil empirische Daten nahelegen, dass Diskriminierungserfahrungen Einsamkeitsempfindungen hervorrufen oder verstärken – und zwar auf beiden Seiten: sowohl bei den Diskriminierten als auch bei den Diskriminierenden.

Ob spätmoderne Gesellschaften insgesamt immer einsamer werden und welche Art der Einsamkeit zu- oder gar abnimmt, lässt sich – trotz der zunehmend breiteren Studienlage – demnach schwer abschließend beurteilen. Die Corona-Pandemie hat zudem einmal mehr gezeigt, wie instabil empirisch beobachtete Trends sein können. Plötzlich stiegen die Einsamkeitsbelastungen, nicht zuletzt die der Jüngeren (Schobin u. a. 2024). Der Hinweis der Arendt-These, die auf die einsamkeitsgenerativen Effekte von Kriegen und Wirtschaftskrisen verweist, deutet in eine ähnliche Richtung. Sie macht eine der großen Schwierigkeiten der aktuellen Forschung deutlich: Es ist schwer zu verstehen, wo und wie sich die ­latenten Potenziale von Einsamkeitsbelastungen im „normalen“ Leben der Menschen entwickeln. Typische Risikoansätze etwa gehen stets implizit davon aus, dass Gruppen, die – wie ältere Menschen ab 75 – typischerweise stärkere Einsamkeitsbelastungen aufweisen, für diese auch vulnerabler sind (Schobin u. a. 2024). Implizit ist dabei jedoch eine ceteris-paribus-Klausel am Werk. Es muss im Kern alles so bleiben, wie es ist. Schockartige gesellschaftliche Veränderungsprozesse wie die Corona-Pandemie sind jedoch möglicherweise ein allgemeines Kennzeichen spätmoderner Gesellschaften. Zu denken geben hier etwa die Klimakrise, die kontinuierlichen Wirtschaftskrisen seit 2008 und jüngst die Zunahme kriegerischer Konflikte zwischen Industrienatio­nen wie Russland und der Ukraine. Mit Blick auf die Einsamkeit ist hier der springende Punkt, dass gesellschaftliche Schockereignisse sich letztendlich immer auch als eine Veränderung der sozialen Nahbeziehungsnetzwerke äußern. Wo sich die Umstände schnell und umfassend für ganze Großgruppen ändern, muss sich notwendigerweise auch das soziale Beziehungsnetzwerk schnell und tiefgreifend verändern. Wer davon am ehesten betroffen ist, lässt sich schwer vorab prognostizieren. Es scheint daher angebracht, zu vermuten, dass wir in den nächsten Jahren immer häufiger die Frage nach der Veränderung von Einsamkeitsbelastungen in Gesellschaften im Kontext globaler Schocks wie Klimafluchtbewegungen, dem Zusammenbruch von Märkten, Kriegen und Pandemien stellen müssen.


Literatur

Arendt, Hannah 1973: The Origins of Totalitarianism. New York.

Bierhoff, Burkhard 2017: Kommodifizierung im ­Konsumkapitalismus. In: Ders.: Liebe im Konsumkapitalismus. Wiesbaden, S. 9–11.

Castells, Manuel 22010: The rise of the network society. Chichester.

Hertz, Noreena 2021: Das Zeitalter der Einsamkeit. Über die Kraft der Verbindung in einer zerfaserten Welt. Hamburg.

Jandl, Paul 2024: Deutschland vereinsamt. Aus der ­Covid-Pandemie ist eine Einsamkeitsepidemie geworden. In: NZZ v. 9.7.

Luhmann, Maike 2022: Definitionen und Formen der Einsamkeit. https://kompetenznetz-einsamkeit.de/download/2882/ [zuletzt 19.2.2025].

Schauer, Alexandra 2023: Mensch ohne Welt. Eine ­Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung. Berlin.

Schobin, Janosch/Gibson-Kunze, Martin/Arriagada, Céline 2024: Einsamkeitsbarometer 2024: Methodik und ausgewählte Ergebnisse. In: Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz, 10, S. 1152–1160.