
Der „einsame Tod“ und die Fragmentierung sozialer Strukturen
Zur wachsenden Einsamkeitskrise in Japan
Interview mit Evelyn Schulz
POLITIKUM: Mit Japan verbinden viele von uns das Kirschblütenfest, den Comic-Trend der Mangas und Karoshi, also das Phänomen, dass sich Menschen dort schlicht zu Tode arbeiten. Auch im Kontext von Einsamkeit ist Japan aber höchst relevant – inwiefern?
Evelyn Schulz: Einsamkeit, soziale Isolation und Vereinsamung sind in Japan zentrale gesellschaftliche Themen, angetrieben durch den tiefgreifenden demografischen Wandel seit den 1970er Jahren. Geburtenrückgang und Überalterung verändern die sozialen Strukturen und das Zusammenleben grundlegend. Mittlerweile steht Japan vor einer der gravierendsten demografischen Krisen weltweit. Die Geburtenrate ist mit 1,2 Kindern pro Frau weit unter dem Reproduktionsniveau. Im Jahr 2022 wurde mit 760.000 Geburten ein historischer Tiefstand erreicht. Gleichzeitig steigt die Zahl der Sterbefälle auf über
1,6 Millionen. Diese Entwicklung führt dazu, dass Japan als erste „super-aged society“ gilt, mit über 25 % der Bevölkerung im Alter von über 65 Jahren. Prognosen gehen davon aus, dass dieser Anteil bis 2070 auf 40 % steigen wird. Die demografischen Veränderungen haben weitreichende Auswirkungen: Kinder wachsen häufig ohne Geschwister auf, ältere Menschen leben zunehmend allein. Besonders deutlich sichtbar werden diese Veränderungen, wenn etwa Grundschulen zu Altenheimen umgebaut werden.
Viele Selbstverständlichkeiten der Nachkriegsgeneration, wie lebenslange Beschäftigung, gelten heute nicht mehr. Insbesondere für junge Menschen verschlechtern sich die Arbeitsmarktbedingungen: weniger Festanstellungen, mehr Teilzeit und Arbeitslosigkeit. Wirtschaftliche Unsicherheit führt dazu, dass sich junge Menschen aus dem sozialen Leben zurückziehen und keine Familie gründen. Die Kernfamilie, einst tragendes Element der Modernisierung Japans, verliert an Bedeutung.
Städtische und ländliche Regionen sind unterschiedlich von diesen Prozessen betroffen. So sind in Tokio bereits über 30 % der Haushalte Einpersonenhaushalte. Prognosen erwarten, dass 2040 fast ein Fünftel aller Haushalte in Japan alleinstehende Senior:innen umfassen wird, oft ohne familiäre Unterstützung. Der demografische Wandel trifft ländliche Gebiete besonders hart: steigender Leerstand und schwer aufrechtzuerhaltende Infrastruktur, vor allem in den Gebirgsregionen, die rund 70 % der Fläche Japans ausmachen und meist kaum besiedelt sind.
Der „einsame Tod“ (kodokushi 孤独死), bei dem Menschen unbemerkt und isoliert sterben, verdeutlicht die Fragmentierung sozialer Strukturen. Im ersten Halbjahr 2024 wurden in Japan 38.000 alleinlebende Menschen tot in ihren Wohnungen gefunden, über 70 % davon waren über 65 Jahre alt. In fast 4.000 Fällen wurde die/der Verstorbene erst nach über einem Monat entdeckt; in 130 Fällen sogar erst nach über einem Jahr. Da viele Verstorbene mittellos waren, mussten die Kommunen für die Bestattungskosten aufkommen. Auch die Aufbewahrung nicht abgeholter Urnen wird zunehmend zu einem Problem.
Der Bedeutungsverlust traditioneller Werte und sozialer Bezugssysteme, wie Großfamilien oder enge Nachbarschaftsverbände, die rasante Urbanisierung im Verlauf des 20. Jahrhunderts und die Ideologie der Kernfamilie, die sich in der Nachkriegszeit noch verstärkt hat, haben familiäre Netzwerke geschwächt, die früher die Betreuung junger und alter Menschen sicherten. Zugleich spiegelt der einsame Tod die gesellschaftlichen Herausforderungen wider, die durch Vereinsamung, Isolation, Armut und andere Formen der sozialen Exklusion entstehen.
POLITIKUM: Und wie steht die jüngere Generation zu diesen Veränderungen?
Schulz: Auch sie ist stark von den Veränderungen betroffen. Im Zuge der Urbanisierung und Industrialisierung im zurückliegenden Jahrhundert zog es viele junge Menschen in die Städte, um zu studieren oder zu arbeiten. Die Binnenmigration führte zu Brüchen: Heimatverlust, familiäre Trennung, zerbrochene Netzwerke und unerfüllte Hoffnungen auf Beziehungen oder Karriere machten empfänglich für Einsamkeit und Isolation bzw. verstärkten diese.
Ein wachsender Anteil junger Erwachsener entscheidet sich bewusst gegen althergebrachte Lebensmodelle – wie die Gründung einer Familie –, die Anpassung an die strikte Leistungsethik und die von patriarchalischen Strukturen geprägte Arbeitswelt. Sie suchen alternative Lebens- und Arbeitsformen mit mehr Freiräumen, trotz Armutsrisiken, etwa als „Neets“ (Akronym für „Not in Education, Employment, or Training“). Dies sind meist 15- bis 34-Jährige ohne Arbeit oder Ausbildung. 2023 erreichte die Zahl der Schulverweigerer mit über 400.000 einen Höchststand. Das Phänomen Hikikomori (wörtlich: „sich zurückziehen“) – ein umfassender sozialer Rückzug – spiegelt die sozialen und psychischen Reaktionen auf die Herausforderungen junger Menschen wider.
Die Corona-Pandemie hat die Einsamkeit weiter verschärft. Lockdowns, soziale Distanzierung und der Verlust sozialer Interaktionen haben dazu geführt, dass psychische Belastungen wie Depressionen und Isolation zugenommen haben. Gleichzeitig hat die Pandemie das Bewusstsein für Einsamkeit und deren Folgen verstärkt, was neue Diskussionen über die Notwendigkeit von Unterstützungsstrukturen und alternativen Lebensmodellen angestoßen hat.
POLITIKUM: Das sind ja unglaubliche Zahlen. Weswegen sehen wir diese Vereinsamungstendenzen gerade in Japan so extrem bzw. warum sind dieselben Entwicklungen, die wir bei uns beobachten, dort schon weiter fortgeschritten?
Schulz: In Bezug auf den demografischen Wandel geht man davon aus, dass Japan uns ungefähr 20 Jahre voraus ist. Wir können dort Phänomene schon seit Jahren beobachten, die sich bei uns erst entwickeln. Hinzu kommen mehrere kulturelle Unterschiede. Bei interkulturellen Vergleichen übertragen wir häufig unsere Vorstellungen vereinfachend auf die andere Kultur. Zwischen Deutschland und Japan gibt es aber durchaus Unterschiede. So etwas ist, wissenschaftlich gesehen, natürlich schwer zu erfassen, aber meiner Wahrnehmung nach ist in Japan bspw. die Scham aufgrund vermeintlichen Versagens viel stärker ausgeprägt als hierzulande. Menschen ziehen sich dann zurück. Auch gibt es kaum Vereine. Wenn Kinder nicht mehr in die Schule gehen, sind sie sehr schnell ganz aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen; in Deutschland wären sie vielleicht noch weiterhin im Fußballverein. Es gibt außerdem große Unterschiede hinsichtlich des Wohlfahrtssystems. Essensausgaben, vergleichbar mit unseren Tafeln, wurden erstmals im Jahr 2000 eingerichtet und anschließend schrittweise ausgebaut.
POLITIKUM: Betrachten wir näher den Begriff der „Einsamkeit“. Gibt es auch da Unterschiede, die auf verschiedene Auffassungen hindeuten?
Schulz: Das Begriffsfeld „Einsamkeit“ umfasst vielfältige Bedeutungen und kulturell geprägte Nuancen, die die Wahrnehmung und Bewertung von Einsamkeit sehr unterschiedlich prägen. Prominente Beispiel aus dem Englischen sind solitude und loneliness. Während solitude eher positiv wahrgenommen wird, da damit ein gewolltes und oft produktives Alleinsein beschrieben wird, das mit Reflexion, Kreativität und innerem Frieden verbunden ist, ist loneliness eher negativ konnotiert, indem es auf Gefühle des Verlassenseins oder unerwünschter Isolation verweist.
Im Japanischen gibt es ähnliche Unterscheidungen. Diese werden im Folgenden anhand häufig verwendeter Wörter für „Einsamkeit“ – kodoku 孤独, koritsu 孤立, sabishisa 寂しさ und samishisa 淋しさ – kurz dargelegt. Ihre Unterschiede liegen in den emotionalen Nuancen, dem Kontext und der Intensität der Einsamkeit, die sie ausdrücken.
Kodoku beschreibt eine existenzielle Einsamkeit, die über bloßes physisches Alleinsein hinausgeht und Gefühle der Isolation, Verlassenheit und Entfremdung einschließt. Kodoku beschreibt das Gefühl von Verlorenheit und das Fehlen eines Zugehörigkeitsortes innerhalb der lokalen Gemeinschaft. Daneben verweist kodoku auf gesellschaftliche Entwicklungen wie Vereinsamung und Isolation, die in modernen Gesellschaften besonders deutlich hervortreten.
Ein prägnantes Beispiel ist der „einsame Tod“ (kodokushi), bei dem Menschen isoliert sterben.
Während kodoku die emotionalen und psychologischen Dimensionen der Einsamkeit betont, hebt koritsu die physischen Aspekte sozialer Isolation vor.
Sabishisa beschreibt eine emotionale Einsamkeit, die als momentanes Gefühl der Verlassenheit oder Leere wahrgenommen wird, jedoch ohne tiefgreifende Isolation oder existenzielle Einsamkeit. Sabishisa drückt die Sehnsucht nach Nähe und Verbindung aus und wird oft in Alltagssituationen verwendet. In Literatur und Kunst vermittelt sabishisa Stimmungen von Nostalgie, Sehnsucht oder Vergänglichkeit. Sabishisa steht für eine sanftere, oft akzeptierte Einsamkeit, im Gegensatz zur Verzweiflung, die bei kodoku mitschwingt. Sabishisa kann auch positiv wirken, indem diese Form der Einsamkeit Selbstreflexion fördert oder kreative Prozesse inspiriert.
Samishisa beschreibt eine intensivere Form der Einsamkeit als sabishisa, geprägt von Melancholie und Verlassenheit. Das Wort vermittelt subtile, tief emotionale Nuancen wie Nostalgie, Trennung und Verlassensein, besonders in poetischen Kontexten wie Gedichten, Romanen und Liedtexten. Im Alltag wird samishisa vor allem für Situationen mit starker emotionaler Resonanz verwendet.
Selbstgewählter Rückzug ist in Japan kein rein modernes Phänomen, sondern hat eine lange Geschichte. Inton seikatsu 隠遁生活 („Leben des Rückzugs“) bezeichnet eine Tradition des gesellschaftlichen Rückzugs mit Wurzeln im 8. Jahrhundert, geprägt von buddhistischen und taoistischen Anschauungen chinesischen Ursprungs. Gemeint ist eine Lebensweise, die auf einen bewusst intendierten Rückzug aus der Gesellschaft abzielt. Der Fokus liegt dabei auf dem Streben nach innerem Frieden und spiritueller Erfüllung, fernab von den Anforderungen und Zerstreuungen der Gesellschaft. Der Rückzug (inton) wird oft mit religiösen oder philosophischen Idealen assoziiert, insbesondere mit dem Zen-Buddhismus, der Meditation und Reflexion betont. In der Literatur und Kunst Japans ist der Rückzug ein wiederkehrendes Motiv. Mönche, Philosophen oder auch gewöhnliche Menschen zogen sich ins Einsiedlerdasein zurück, um eine höhere Form des Lebens zu verwirklichen. In vielen Fällen wurde der Rückzug weniger als Flucht als vielmehr als ein Ausdruck persönlicher Stärke und Unabhängigkeit angesehen.
Heutzutage wird inton seikatsu gelegentlich als Gegenbewegung zur schnelllebigen, urbanisierten Gesellschaft gesehen. Manche Menschen suchen in der Natur oder in der Isolation nach Klarheit und einem einfacheren Leben, einem slow life in ländlichen Räumen. Inton seikatsu verbindet somit eine selbstgewählte Einsamkeit mit einer bewussten Entscheidung, die persönliche Freiheit und Reflexion in den Mittelpunkt stellt.
Im heutigen Einsamkeitsdiskurs spielt kodoku eine zentrale Rolle. Die begriffliche Vielschichtigkeit von kodoku erlaubt es, sowohl individuelle Isolationserfahrungen als auch gesellschaftliche Dimensionen von Einsamkeit zu thematisieren. Kodoku verweist nicht nur auf persönliche Gefühle der Isolation, sondern betont auch die Notwendigkeit, soziale Strukturen und Gefühle der Zugehörigkeit und Gemeinschaft zu stärken, um existenzieller Einsamkeit entgegenzuwirken.
Kodoku unterscheidet sich von einem einfachen Zustand des Alleinseins, dessen ästhetischer Überhöhung oder einem bewusst gewählten Rückzug. Es beschreibt vielmehr ein subjektives Gefühl von Entfremdung und das Fehlen eines Platzes der Zugehörigkeit (ibasho
居場所). Diese Form der „Einsamkeit“ ähnelt einem „Cluster“ von Emotionen, das neben Einsamkeit und Isolation auch Scham, Wut und Traurigkeit umfasst.
Der individuelle Umgang mit Einsamkeit beinhaltet verschiedene Strategien. In der japanischen Kultur sind besonders Schicksalsergebenheit und Rücksichtnahme zentrale Elemente im Umgang mit Einsamkeit. Der Ausdruck Watashi no gyō desu („Das ist meine Bestimmung“) spiegelt eine von buddhistischen Anschauungen geprägte Haltung der Akzeptanz schwieriger Lebenssituationen wider. Die Haltung steht in Verbindung mit dem Bestreben, anderen nicht zur Last zu fallen. Diese Prinzipien fördern Rücksichtnahme und Selbstdisziplin, erschweren jedoch oft den Austausch und die Suche nach Hilfe. Aus Angst, eine Belastung zu sein, lehnen viele Menschen Unterstützung ab.
Die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Gütern und Dienstleistungen, wie Lieferservices und Online-Communities, ermöglicht ein unabhängigeres Leben, kann jedoch auch das Gemeinschaftsgefühl schwächen. Insgesamt wird Einsamkeit in Japan oft nicht nur als Mangel an Gesellschaft und Geselligkeit, sondern auch als Chance zur Reflexion, Kreativität und spirituellen Entwicklung gesehen. Eine solche positive Wahrnehmung von Einsamkeit ist tief in der Philosophie, Religion und Kultur Japans verwurzelt.
POLITIKUM: Im Kontext des erwähnten „Lebens des Rückzugs“: Wie sind die religiöse Prägung bzw. umgekehrt die Säkularisierungstendenzen der japanischen Gesellschaft einzuschätzen?
Schulz: Das ist eine sehr gute Frage, weil meines Erachtens häufig nicht gesehen wird, wie religiös die japanische Gesellschaft nach wie vor ist. Dies spielt im Kontext unseres Themas durchaus eine wichtige Rolle. So ist zum Beispiel die Vorstellung von Karma nach wie vor tief in den Köpfen der Bevölkerung verankert. Meiner Wahrnehmung nach ergibt sich daraus eine Art Schicksalsergebenheit, die je nach Person, Umständen und gesellschaftlichen Normvorstellungen unterschiedlich ausgeprägt ist.
POLITIKUM: Das ist ein interessanter Aspekt. Neben dieser religiösen Prägung und dem von Ihnen erwähnten demografischen Wandel – welche Rolle würden Sie dem Wirtschaftssystem zuschreiben? Fördert es Ihrer Ansicht nach die Einsamkeit oder dominieren eher die anderen Faktoren?
Schulz: Einsamkeit betrifft in Japan Menschen aller Generationen und wird durch gesellschaftliche, kulturelle und ökonomische Strukturen geprägt. Besonders Arbeitskultur und Urbanisierung schwächen soziale Bindungen und erschweren die Entwicklung von Freiräumen für die persönliche Entfaltung. Das Wirtschaftssystem und die Arbeitsstrukturen fördern eine enge Bindung der Angestellten an ihre Firma. Nach der Arbeit sind gemeinsame Aktivitäten wie Kneipenbesuche oder Karaoke üblich, was das Privatleben einschränkt. Gleichzeitig führt das Leben in Großstädten, oft mit langen Pendelwegen zwischen Wohnort und Arbeitsplatz, zu einer Entfremdung vom sozialen Umfeld.
Während der Berufstätigkeit bleibt meist wenig Zeit für Hobbys oder andere Interessen. Im Ruhestand entfallen dieses Betätigungsfeld und die damit verbundenen sozialen Kontakte oft komplett, was häufig Einsamkeit nach sich zieht. Diese Dynamik betrifft nicht nur ältere, sondern auch jüngere Generationen.
Im vergangenen Jahrhundert zog ein Großteil der städtischen Bevölkerung Japans aus ländlichen Regionen zu. Diese Binnenmigration schwächte die „Bindungen“ (en 縁) zu Familie, Heimat und sozialem Umfeld erheblich oder ließ sie vollständig verschwinden. Während ländliche Gemeinschaften durch starke, teils erdrückende Bindungen geprägt waren, hat die Urbanisierung diese Strukturen aufgelöst, zugleich jedoch soziale Isolation verstärkt. Der Verlust solcher Bindungen gilt als zentraler Faktor für das zunehmende Einsamkeitsempfinden in städtischen Räumen.
Schon vor der Corona-Pandemie waren gesellschaftliche Phänomene wie otaku („Nerd“, Menschen mit obsessiven Interessen, meist im Bereich Anime- und Manga-Fankultur) und Hikikomori präsent. Diese Begriffe, die in den 1980er Jahren geprägt wurden, beschreiben meist jüngere Menschen, die sich stark auf ihre Interessen fokussieren oder vollständig aus der Gesellschaft zurückziehen. Die Pandemie verstärkte diese Tendenzen und verwandelte Japan zeitweise in eine Art „Hikikomori-Nation“, geprägt von Isolation und sozialem Rückzug. Künstler wie Atsushi Watanabe, selbst ein ehemaliger Hikikomori, engagieren sich heute für die Stärkung und das „Empowerment“ von Menschen in ähnlichen Situationen.
Einsamkeit in Japan resultiert aus einer komplexen Mischung sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Faktoren. Urbanisierung, Arbeitskultur und der Rückgang sozialer Bindungen tragen dazu bei, dass sich viele Menschen isoliert fühlen. Die wachsende Bedeutung von en (Bindungen) und die Probleme durch gesellschaftlichen Rückzug verdeutlichen, dass Einsamkeit eine generationenübergreifende Herausforderung ist. Japan steht vor der Aufgabe, soziale Bindungen zu fördern und persönliche Freiräume zu stärken, um Einsamkeit wirksam zu begegnen.
POLITIKUM: Hat das Phänomen auch mit der Familienstruktur zu tun?
Schulz: In der Vormoderne war der Drei-Generationen-Haushalt die gesellschaftliche Grundstruktur in Japan. Er bot soziale und wirtschaftliche Stabilität, da Familien als Arbeits- und Unterstützungseinheiten in Landwirtschaft und Handwerk zusammenwirkten. Diese Haushaltsform war von klaren Hierarchien geprägt. Frauen, insbesondere Schwiegertöchter, hatten meist eine untergeordnete Rolle und trugen die Verantwortung, sowohl ihre eigene Familie als auch die Schwiegereltern zu versorgen.
Mit der Modernisierung und Urbanisierung Japans im 20. Jahrhundert veränderten sich die familiären Strukturen grundlegend. Der Drei-Generationen-Haushalt wurde zunehmend vom Modell der Kernfamilie aus Eltern und Kindern abgelöst. Diese Anpassung an städtische Lebensbedingungen wurde als eine Form der Emanzipation wahrgenommen, da Frauen, insbesondere Schwiegertöchter, nicht mehr in großen Familienverbänden leben und die Pflege der Schwiegereltern übernehmen mussten. Sie gewannen mehr Eigenständigkeit innerhalb der Kernfamilie, was Paaren und ihren Kindern größere Unabhängigkeit und eine stärkere Fokussierung auf eigene Bedürfnisse ermöglichte.
Gleichzeitig ging dieser Wandel mit dem Verlust der engen familiären Netzwerke einher, die in den ländlichen Drei-Generationen-Haushalten bestanden hatten. Die Auflösung der Unterstützungsstrukturen führt in der modernen Gesellschaft häufig zu Einsamkeit und Isolation, insbesondere bei älteren Menschen und Menschen, die aus sehr unterschiedlichen Gründen nicht heiraten können oder wollen.
POLITIKUM: Welche Rolle spielt dabei auch die Weise des Wohnens bzw. die Architektur? Ich habe den Eindruck, dass unsere Vereinzelung teilweise schon in unserer abgeschotteten Wohnweise angelegt ist.
Schulz: In den 1960er und 1970er Jahren entstanden in Japan zahlreiche Schlaf- und Trabantenstädte, um das Wohnraumproblem der schnell wachsenden städtischen Bevölkerung zu lösen. Diese Siedlungen bestanden aus standardisierten Apartments, oft in Form von Firmenwohnungen, die eng mit der japanischen Arbeitskultur verknüpft waren. Ihre funktionale Ausrichtung stand im starken Kontrast zu den traditionellen Mehrgenerationenhäusern, die in ländlichen Regionen und Dörfern weiterhin verbreitet blieben.
In den meisten Städten gibt es zu wenig öffentliche Räume, die informelle, zufällige Begegnungen ermöglichen. Während in den kleinräumigen lokalen Einkaufsstraßen (shōtengai) soziale Interaktion selbstverständlich war, verschwinden solche Orte zunehmend oder fehlen ganz – ein Trend, der in vielen modernen Gesellschaften zu beobachten ist. Stattdessen nehmen laut Marc Augé die „Nicht-Orte“ (non-places) wie Bahnhöfe, Einkaufszentren oder Autobahnen zu. Diese rein funktionalen Transiträume fördern kaum soziale Interaktion, sondern verstärken Entfremdung, Anonymität und Einsamkeit.
Die Gentrifizierung attraktiver Stadtgebiete verändert die soziale Struktur grundlegend. Traditionelle Nachbarschaften mit enger Gemeinschaftskultur weichen teuren Wohnvierteln, die überwiegend von sozial homogenen Gruppen bewohnt werden. Dies verringert die soziale Vielfalt und reduziert generationenübergreifende Begegnungen.
Auch Genderperspektiven spielen eine wichtige Rolle bei der Analyse von Räumen. In Japan verbringen Frauen oft mehr Zeit im häuslichen Bereich, während Männer beruflich genutzte Räume wie Büros dominieren. Diese geschlechtsspezifische Trennung prägt, wie Einsamkeit wahrgenommen wird, und erfordert gezielte, unterschiedliche Lösungsansätze.
POLITIKUM: Machen sich dort auch die Unterschiede zwischen Stadt und Land sowie im Allgemeinen die Urbanisierung bemerkbar?
Schulz: Japans ländliche Regionen erleben widersprüchliche Entwicklungen. Insbesondere abgelegene Gebiete kämpfen mit Bevölkerungsrückgang und Überalterung. Die Infrastruktur – etwa Kindergärten, Schulen, medizinische Versorgung oder öffentlicher Nahverkehr – ist vielerorts nur mit großem Aufwand aufrechtzuerhalten. Auch Handwerksbetriebe, Tempel und Schreine bleiben oft ohne Nachfolger. Um diesem Trend entgegenzuwirken, stellt die Regierung Fördergelder bereit, um junge Menschen aus städtischen Zentren für einen Umzug aufs Land zu gewinnen. Tatsächlich gibt es seit einigen Jahren eine leichte Trendumkehr, dass Berufstätige vorübergehend oder dauerhaft in ländliche Regionen ziehen. Dort sind Mehrgenerationenhäuser nach wie vor verbreitet. Sie vereinen Großeltern, Eltern und Kinder und fördern familiäre Bindungen sowie soziale und praktische Unterstützung. Doch auch hier verändern sich Wohnformen: Moderne mehrstöckige Apartmenthäuser, die stärker auf Kernfamilien und Einzelhaushalte ausgerichtet sind, ersetzen zunehmend die traditionellen Strukturen.
Trotz dieser Veränderungen bleibt in ländlichen Regionen die soziale Organisation durch Nachbarschaftsgemeinschaften weiterhin bestehen. Sie dienen als Bindeglied zur lokalen Verwaltung, organisieren Feste (matsuri) und religiöse Zeremonien, stärken den Gemeinschaftssinn und unterstützen ältere Menschen im Alltag.
POLITIKUM: Wie versucht die japanische Regierung gegenzusteuern?
Schulz: Japan sieht sich seit Jahrzehnten mit einer wachsenden Einsamkeitskrise konfrontiert, die alle Generationen betrifft. Besonders alarmierend war der Wiederanstieg der Suizidrate im Jahr 2020, nachdem diese elf Jahren in Folge gesunken war. Im Oktober 2020 starben mehr Menschen durch Suizid als im gesamten Jahr an Covid-19. Eine Regierungsumfrage 2022 ergab, dass sich 40 % der Menschen ab 16 Jahren einsam fühlten – ein Anstieg um vier Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr. Um der Einsamkeit entgegenzuwirken, ernannte Japan 2021 einen „Minister für Einsamkeit“ und setzte eine Taskforce ein, um Maßnahmen zu entwickeln. Zu den bisherigen Initiativen zählen Telefonseelsorge und Chatbots als niederschwellige Hilfsangebote und die Gründung lokaler Austauschgruppen, die soziale Netzwerke stärken sollen.
POLITIKUM: Gibt es dort sinnvolle Konzepte zur Bekämpfung der Einsamkeit, vielleicht auch Initiativen aus der Gesellschaft heraus, die Sie auch für Deutschland sinnvoll fänden?
Schulz: Im Juni 2023 unterzeichneten Japan und Deutschland eine gemeinsame Erklärung zur Bekämpfung von Einsamkeit und sozialer Isolation. Der damalige japanische Minister für Einsamkeit und Isolation (Kodoku/Koritsu Taisaku Tantō Daijin 孤独 · 孤立対策担当大臣), Ogura Masanobu, und die deutsche Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Lisa Paus, betonten die globale Bedeutung dieses Themas, das durch die Covid-19-Pandemie weiter verschärft worden war. Beide Länder vereinbarten einen intensiveren Informationsaustausch und die Zusammenarbeit bei der Entwicklung von Maßnahmen gegen Einsamkeit.
Die Schaffung eines eigenen Ministeriums in Japan 2021 – nach dem Vorbild von Großbritannien 2018 – hebt die Problematik auf die politische Ebene und stärkt die öffentliche Wahrnehmung. Im April 2023 trat in Japan ein Gesetz in Kraft, das die Regierung verpflichtet, Einsamkeit und Isolation aktiv zu bekämpfen. Regionale Behörden wurden angewiesen, Räte und Selbsthilfegruppen einzurichten, um Betroffenen Unterstützung zu bieten.
Zudem hatte in Japan das Thema Einsamkeitsbekämpfung schon lange vor der Gründung des entsprechenden Ministeriums Aufmerksamkeit erhalten.
Seit den 1990er Jahren sammelt das Land vielseitige Erfahrungen im Umgang mit Hikikomori, einem Phänomen des extremen sozialen Rückzugs, der mehrere Monate bis viele Jahre andauern kann. Betroffene leben meist noch bei ihren Eltern, vermeiden jedoch oft auch den Kontakt zu ihnen. Die Lebensumstände und Hintergründe der Hikikomori sind vielfältig und folgen keinem einheitlichen Muster. Auslöser können dysfunktionale Familienstrukturen, Kindheitstraumata, Mobbing-
Erfahrungen, gescheiterte Schullaufbahnen oder problematische Beziehungen sein. Bei vielen Betroffenen geht der Rückzug zudem mit psychischen Störungen einher.
Diese – meist schambesetzten – Themen werden in Japans Unterhaltungs- und Populärkultur vielfach aufgegriffen, etwa in Manga, Anime, Film und Literatur. Ein bekanntes Beispiel ist der Roman Lonely Castle in the Mirror (Kagami no Kojō かがみの孤城, 2017) von Mizuki Tsujimura, der auch als Manga (2019–2022) und Anime (2022) adaptiert wurde und in vielen Sprachen (auch auf Deutsch) erhältlich ist. Das Werk beleuchtet eindrucksvoll Themen wie Einsamkeit und soziale Isolation und zeigt, wie tief diese Problematik in der japanischen Gegenwartsgesellschaft verwurzelt ist. Solche Werke können Menschen, die ähnliche Herausforderungen erleben, Trost spenden und ein Gefühl von Verbundenheit vermitteln. Allerdings gibt es auch Kritik, dass manche Darstellungen Isolation romantisieren oder keine Lösungen anbieten.
Bei der Entwicklung von Maßnahmen muss die Vielfalt der „Einsamkeitsgruppen“ berücksichtigt werden – von Kindern und Jugendlichen über Erwachsene bis zu Senioren und Hochbetagten.
Sowohl in Japan als auch in Deutschland existieren hierfür vielfältige Angebote, die von unterschiedlichen Trägern bereitgestellt werden.
In Japan fällt der vergleichsweise entspannte und offene Umgang mit neuen Technologien wie Avataren und Robotern auf. Diese werden gezielt eingesetzt, um soziale Verbindungen zu fördern und Einsamkeit zu bekämpfen. Ergänzend dazu gibt es zahlreiche Online-Angebote zur Unterstützung. So bietet etwa die Initiative Anata no ibasho („Dein Ort“) einen 24/7-Chatdienst an, bei dem Nutzer anonym mit geschulten Freiwilligen über ihre Sorgen sprechen können. Ziel ist es, isolierten Menschen sofortige emotionale Unterstützung und ein Gefühl von Gemeinschaft zu bieten. Auch Roboter wie „Lovot“ werden verstärkt genutzt. Dieser speziell für ältere Menschen entwickelte Begleitroboter erkennt Gesichter, reagiert auf seinen Namen und führt einfache Interaktionen aus, wodurch er emotionalen Trost und verbessertes Wohlbefinden bietet.
Diese Initiativen verdeutlichen, wie Japan aktiv Technologien einsetzt, um soziale Isolation zu bekämpfen und das psychische Wohlbefinden seiner Bevölkerung zu fördern. Avatare und virtuelle Assistenten werden nicht nur als Lösung gegen Einsamkeit gesehen, sondern auch als Medien, die zu einem positiven Alleinsein beitragen können.
Das Interview führte Ina Schildbach.