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Die Rezensierenden

PD Dr. Jana Windwehr (FU Berlin) und Oscar Prust, M.A. (MLU Halle-­Wittenberg)

Der einsame Mensch – kein zoon politikon

„Tote Hunde beißen doch noch!“: Klassiker neu gelesen

Aristoteles: Politik. Übersetzt und mit einer Einleitung sowie Anmerkungen herausgegeben von Eckart Schütrumpf. Meiner Verlag: Hamburg 2012, 354 Seiten

Was kann ein fast 2500 Jahre altes Argument (Aristoteles lebte von 384 bis 322 v. Chr.) zur Debatte über Einsamkeit in modernen Gesellschaften beitragen? Aristoteles’ Denken kreist um eine zentrale Idee: Der Mensch ist kein isoliertes Individuum, sondern ein von Natur aus nach Gemeinschaft strebendes Wesen, das sich durch seine Teilhabe an der Polis, seiner politischen Gemeinschaft, verwirklicht (zoon politikon). Das höchste Ziel dieses menschlichen Strebens ist für Aristoteles die Glückseligkeit (Eudaimonia) – eine gelingende Existenz, die sich vor allem durch eine aktive gesellschaftliche Teilhabe definiert, mehr als durch das Streben nach „äußeren Dingen“ – also: materiellen Gütern. Menschen sollen zu ihrer Polis ein enges Verhältnis (philia = Freundschaft) entwickeln, indem sie mit dieser im ständigen Kontakt und wechselseitigen Austausch sind. Daraus resultiert im Umkehrschluss: Ohne Teilhabe an der Polis bleibt etwas Wesentliches unvollendet. Wer sich dem politischen Leben entzieht – sich zurückzieht oder ausgeschlossen wird –, verfehlt aus aristotelischer Sicht seine menschliche Natur als soziales Wesen. Einsamkeit führt demnach zur Entpolitisierung und schlimmstenfalls einem Untergang des Menschseins.

In Aristoteles’ idealtypischer Polis, um eine zentrale Kritik gleich vorwegzunehmen, galt dies per Definition für einen Großteil der Bevölkerung nicht, nämlich für Frauen, Sklaven und Kinder. Diese waren keine vollwertigen Bürger und damit grundsätzlich aus dem politischen Leben ausgeschlossen. Heute mag niemand mehr offen vom „Unmenschen außerhalb der Polis“ sprechen – solch radikale Ausschlüsse ganzer Bevölkerungsgruppen gehören glücklicherweise der Vergangenheit an – und doch erinnern uns die Debatten um das Wahlrecht oder auch die deskriptive Repräsentation verschiedener Gruppen, dass Ungleichheiten in der modernen Version der Polis weiterhin bestehen und die Beziehung der Betroffenen zu ihrem Gemeinwesen beeinträchtigen (können).

Noch schwerer als diese von außen auferlegten Zugangshürden mag aber die Individualisierung der Gesellschaft insgesamt wiegen. Ein erster Punkt sind die individualisierten Lebens- und Arbeitswelten, einhergehend mit einer Auflösung bzw. einem immer kleineren Zuschnitt heterogener Gruppenidentitäten, die sich nicht als Teil des großen Ganzen verstehen, sondern auf dem „Markt“ versuchen ihre Partikularinteressen durchzusetzen (oder zu retten). Verschärft wird dies zweitens durch die zunehmende Verlagerung weiter Teile gesellschaftlichen Lebens ins Digitale, das – trotz zeitweiliger Hoffnung – keinen vergleichbaren Erfahrungsraum politischer Zugehörigkeit bietet. Drittens offenbart sich im Privaten wie in öffentlichen Debatten eine wachsende…

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