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Der Rezensent

Prof. Dr. Stefan Schieren, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt und langjähriger Herausgeber der POLITIKUM.

Das besondere Buch: Unter Beobachtung

Philip Manow: Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde. Berlin: Suhrkamp 2024, 252 Seiten.

Das Scheitern der „Ampel“-Regierung lässt sich auf den Tag genau bestimmen: Es war der 15. November 2023. Das Bundesverfassungsgericht erklärte den Nachtragshaushalt für verfassungswidrig. Damit hatte die „Ampel“-Regierung ihre Grundlage verloren, die sie mit dem umfangreichen Koalitionsvertrag gelegt zu haben glaubte. Die Klimaschutz- respektive Sozialpolitik von Grünen und SPD war unfinanzierbar geworden, nachdem die FDP Steuererhöhungen und eine höhere Neuverschuldung kategorisch ausgeschlossen hatte. Ein letzter Einigungsversuch am 6. November 2024, wenn er denn einer war, scheiterte, weil der Bundesfinanzminister nicht an der Schuldenbremse rühren wollte. Der Bundeskanzler, so die ­Begründung, habe von ihm verlangt, die Schuldenbremse auszusetzen. Das habe er nicht verantworten können. Er hätte anderenfalls seinen Amtseid verletzt. Schuldenbremse? Amtseid? Ist nicht das Budgetrecht das vornehmste Recht des ­Parlaments? Was hat den Verfassungs­gesetzgeber dazu getrieben, eine solche Vorschrift in das Grundgesetz aufzunehmen, das ihn in seiner Entscheidungsfreiheit an zentraler Stelle maßgeblich beschränkt?

Die Schuldenbremse liegt in einem weltweiten Trend zur „Judizialisierung der Politik“. Sie ist, wie es Philip Manow in seinem bedenkenswerten Buch „Unter Beobachtung“ zeigt, Teil des „enormen Konstitutionalisierungsschub[s] im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts“ (22). Exe­kutive und Legislative wurden in diesen Jahren mit Bedacht durch eine expansive Verfassungsgerichtsbarkeit mit Verwerfungskompetenz eingehegt. „Erst einmal installiert und etabliert, sichern die Verfassungsgerichte sich dann ihre weitgehenden Kontrollkompetenzen selbst. Es folgen regelmäßig große Zuständigkeitsausweitungen; keine Frage, die nicht in ihren Entscheidungsbereich fallen würde.“ (64) Das habe, so ­Manow, erhebliche Folgen für die Demokratie als Regierungsform.

Manow betont, dass es sich bei dem Begriff „liberale Demokratie“, um dessen Bestimmung es ihm geht, nicht etwa um einen Pleonasmus handele, sondern um einen Begriff, mit dem die Eigenschaften dieser Demokratieform beschrieben werden, die diese von der „elektoralen ­Demokratie“ unterscheiden. Als Ergebnis eines historischen Prozesses sei es zu einer neuen Akteurskonstellation gekommen, in deren Zuge der Vorrang des Verfassungsrechts vor dem einfachen Gesetz die Funktionsweise der Demokratie maßgeblich verändert habe, und damit auch die Wahrnehmung ihrer Dysfunktionalität (vgl. 19 ff.). Die vorherrschende Neigung, alle Krisen „pauschal einem wirtschaftlichen Neoliberalismus“ zuzuschreiben, müsse korrigiert werden, „denn wir haben es doch mittlerweile eher mit dem zu tun, was man die Metaphysik unserer Gegenwart nennen könnte, in der Macht, Recht, unsere moralischen Selbst­gewissheiten und…

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