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Der Rezensent

Thomas Gräfe ist freier Historiker in Vlotho. Forschungsschwerpunkte: Antisemitismus, deutsch-jüdische Geschichte, „Arisierung“ und Wiedergutmachung.

Bücher zum Thema Antisemitismus

Peter Ullrich, Sina Arnold, Anna Danilina, Klaus Holz, Uffa Jensen, Ingolf Seidel, Jan Weyand (Hg.): Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft (Studien zu Ressentiments in ­Geschichte und Gegenwart Bd. 8). Göttingen: Wallstein Verlag 2024, 315 S. 

Über Antisemitismus wird wieder viel gesprochen und geschrieben. Umso erstaunlicher ist es, dass es keine konsensfähige Definition des Begriffs gibt, die spezifischer ausfällt als der synonymische Gebrauch für Judenhass. Ist Antisemitismus ein Oberbegriff für Judenfeindlichkeit zu allen Zeiten und an allen Orten oder fallen vormoderne Formen (wie der christliche Antijudaismus) und postmoderne Formen (wie Israelfeindlichkeit) nicht darunter? Wie verhält sich der Antisemitismus zu anderen „Ismen“ wie Nationalismus und Rassismus? Ist er eine Teilmenge von ihnen oder ein eigenständiges Phänomen? Beruht der Antisemitismus auf ethnischen Realkonflikten oder allein auf den Projektionen der Antisemiten? Diesen und weiteren Fragen widmet sich das vorliegende Handbuch, das von der Rosa Luxemburg Stiftung und vom Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin erarbeitet wurde, in einer Vielzahl kurzer lexikalisch wirkender Beiträge. Sie sind den Abschnitten Grundbegriffe, Problemfelder und Positionen zugeordnet. Wer sich für die systematische Selbstreflexion des Faches interessiert, erhält damit ein hilfreiches Nachschlagewerk. Antisemitismus ist ein junger Begriff. Seine heutige Bedeutung erhielt er Ende der 1870er Jahre, indem er seine ursprüngliche Anti-Haltung gegen die „semitischen“ Völker auf die Juden verengte. Folglich bezeichnen Peter Ullrich und Uffa Jensen den Antisemitismusbegriff als „unglückliche Wortneuschöpfung mit Potenzial für Irritationen“ (S. 17). 

Die größte Irritation im wissenschaftlichen Kontext ist sicherlich die zwangsläufig anachronistische Anwendung auf Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit und Neuzeit bis 1870. Obwohl man „nicht eindeutig zwischen einer säkularen und einer religiösen Judenfeindschaft unterscheiden kann“ (S. 18), deckt das Handbuch vor- und frühmoderne Formen mit dem Begriff „Antijudaismus“ ab, während für das 19. und 20. Jahrhundert von „modernem Antisemitismus“ zu sprechen sei. Dieser konstruiere, so Jan Weyand, die Juden als Gegner von Volk, Nation und Rasse. Als Kulmination des modernen Antisemitismus in genozidalen Ideen und Praktiken hat Saul Friedländer den Begriff „Erlösungsantisemitismus“ geprägt. Sekundärer Antisemitismus, neuer Antisemitismus, islamistischer Antisemitismus, israelbezogener Antisemitismus und postkolonialer Antisemitismus könnte man als Formen des Post-Holocaust-Antisemitismus zusammenfassen, denn trotz erkennbarer Kontinuitäten zum modernen Antisemitismus reagieren sie auf den Völkermord der Nationalsozialisten an den europäischen Juden, entkontextualisieren ihn und leiten aus seinen Konsequenzen (Wiedergutmachung,…

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