Antisemitismus in den sozialen Medien junger Menschen
Ein Training zur Stärkung der Medien- und
Handlungskompetenz
Antisemitismus im Internet ist ein Problem, das besonders junge Menschen täglich betrifft. Um ihm zu begegnen, sind nicht nur Medienkompetenz, sondern auch eine Kultur der Reflexion und des Dialogs notwendig, in der vielfältige Perspektiven und Standpunkte aktiv einbezogen werden. Das Projekt „RESPOND! – NEIN zu Judenhass im Netz“ zielt darauf ab, junge Menschen zu befähigen, in ihrer digitalen Welt kritisch und differenziert zu agieren, auf Antisemitismus in vielfältiger Weise zu responden und so einen Beitrag zu einem respektvollen und inklusiven gesellschaftlichen Zusammenleben zu leisten.
Antisemitismus ist kein neues Phänomen, vielmehr passt er sich wie ein Chamäleon immer wieder an neue gesellschaftliche Umstände an (Schwarz-Friesel 2019). Gleichzeitig haben sich negative Stereotype, vor allem christlichen Ursprungs, über die Jahrhunderte hinweg gehalten (vgl. Beitrag Han). Folgerichtig werden sie auch heute im Internet verbreitet und haben sich zum Teil derart normalisiert, dass man sie nicht (mehr) als Antisemitismus erkennt (Becker 2021). Besonders alarmierend ist der 50-fache Anstieg antisemitischer Kommentare in sozialen Medien nach den Terroranschlägen der Hamas am 7. Oktober 2023 (Rose u. a. 2023).
Im Netz wird Antisemitismus auf verschiedene Weise ausgedrückt. Ein klassisches Beispiel ist das sogenannte Happy Merchant-Meme, das das antisemitische Stereotyp des angeblich geldgierigen und betrügerischen Juden weiterverbreitet. Oft wird auch der Holocaust geleugnet oder verharmlost. Darüber hinaus finden sich Behauptungen, die Juden seien selbst schuld an ihrem Schicksal. Besonders häufig sind Schlussstrichforderungen, die Schulddiskursen in Deutschland ein Ende setzen wollen. Während der Corona-Pandemie haben auch antisemitische Verschwörungstheorien wieder zugenommen, indem Juden als machtgierigen Drahtziehern die Verantwortung und der Nießnutz aus der Pandemie unterstellt wurde. Im Kontext des Ukraine-Kriegs tauchen ebenfalls antisemitische Narrative auf, beispielsweise in der Gleichsetzung von Russlands Aggression mit den Verbrechen des Nationalsozialismus.
Eine besonders aktuelle Facette des Antisemitismus zeigt sich im Internet in der sogenannten Israel-Kritik (Rensmann 2015; s. Beitrag von Haury).
Die hohe Prävalenz von Antisemitismus in sozialen Medien und sein chamäleonartiger Charakter setzen Mediennutzer:innen einem hohen Risiko aus, mit antisemitischen Sichtweisen konfrontiert zu werden und diese sogar in die eigene Denkweise zu übernehmen. Dies gilt insbesondere für junge Menschen, die viel Zeit im Netz verbringen, wenig bis gar nichts über Judenfeindlichkeit wissen und sich in einer sensiblen Phase ihrer Identitätsbildung und politischen Sozialisation befinden. Antisemitische Hassrede im Internet hat schwerwiegende Folgen für alle, die damit konfrontiert werden. Besonders betroffen sind die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden der Diffamierten selbst (Anti-Defamation League 2023). Jüdische Menschen fühlen sich besonders in den sozialen Medien durch antisemitische Inhalte bedroht (Hübscher/von Mehring 2022) und leiden unter Angstzuständen, Schlafstörungen und Sorgen vor zukünftigen Belästigungen. Doch nicht nur direkt Betroffene sind gefährdet. Auch Menschen, die nicht zur angegriffenen Gruppe gehören, können stark unter den negativen Auswirkungen leiden. Bisher wurde Antisemitismus in der Forschung zu Hassrede jedoch nur unzureichend berücksichtigt, insbesondere im Hinblick auf die Erfahrungen junger Menschen in den sozialen Medien. Auch wie junge Menschen kritisch-konstruktiv auf antisemitische Diskurse antworten können, ist wenig erforscht.
Das Projekt RESPOND!
Unser Projekt RESPOND! umfasst mehrere Grundlagenstudien. Aus diesen Untersuchungen wurden konkrete Trainingsmodule entwickelt, die die kritisch-konstruktive Medien- und Handlungskompetenz junger Menschen in Form von Trainingsmodulen im Umgang mit Online-Antisemitismus stärken sollen.
Für die Grundlagenstudien wurden die Studienteilnehmer:innen gebeten, Medientagebücher zu erstellen, die aus ihrer Sicht antisemitische Narrative bedienen bzw. diese erwarten lassen. Die Auswertung der Medientagebücher bestätigte die sich ständig verändernde Natur antisemitischer Vorurteile, die sich aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen anpassen. Das Gros antisemitischer Botschaften wird in ihnen implizit zwischen den Zeilen mit einer sehr niedrigen Intensität an Boshaftigkeit ausgedrückt. Anstatt offener Hetze bedienen sich Nutzer:innen oft verschlüsselter Botschaften, Codierungen und Anspielungen, um antisemitische Inhalte zu verbreiten, ohne direkt auffällig zu werden. Beispiele hierfür sind die Verwendung von Begriffen wie „Globalisten“ oder „Eliten“, die in antisemitischen Kreisen als Chiffren für Jüdinnen und Juden verwendet werden. Israel wird dagegen oft offen und explizit verunglimpft, indem es als Quelle globaler Probleme und unvorstellbarer Gräueltaten dargestellt wird. Diese Verunglimpfungen überschreiten die Grenzen legitimer politischer Kritik und nehmen häufig die Form aggressiver und hasserfüllter Angriffe an. Solche Aussagen werden oft von stark vereinfachten und verzerrten Darstellungen der israelisch-palästinensischen Konflikte begleitet. Durch interaktive technologische Möglichkeiten wie Kommentare, Likes und Emojis erfahren diese Diskussionen ein hohes Eskalationspotenzial, insbesondere weil durch sie besonders niedrigschwellig – durch einen einzigen Klick – Loyalitäten und Gruppenzugehörigkeiten zum Ausdruck gebracht werden (s. weiter unten: Emotionen und Loyalitäten).
Studienergebnisse: Kenntnis
antisemitischer Codes notwendig
Unsere Studien zeigen im Einklang mit bestehenden Erkenntnissen der Online-Antisemitismusforschung, dass eine solide Kenntnis kontextabhängiger verbaler wie visueller Codes erforderlich ist, um hasserfüllte Kommentare gegen Jüdinnen und Juden zu entschlüsseln.
Ohne diese Codes zu kennen, äußern sich junge Menschen in Fokusgruppen über Antisemitismus hochgradig ambivalent. Sie scheinen einzelne Elemente antisemitischer Hassrede zu erkennen, fühlen sich beim Betrachten hasserfüllter Inhalte intuitiv unwohl und kennen sich mit technischen Reaktionsmöglichkeiten auf sozialen Medien gut aus. Gleichzeitig sind sie oft nicht dazu bereit oder in der Lage, Antisemitismus beim Namen zu nennen oder darüber zu sprechen. Sie winden sich aus der Benennung von Antisemitismus heraus, rationalisieren ihn aus den Botschaften weg und distanzieren sich deutlich von ihm, indem sie sagen, er käme in ihrer eigenen Welt (oder „Bubble“) nicht vor. Diese Distanzierung bzw. Leugnung von Antisemitismus ist auch in anderen Studien belegt worden (Chernivsky/Lorenz-Sinai 2023). Unsere Studien betonen im Einklang damit die Notwendigkeit, eine Gesprächsführung über antisemitische Hassrede zu erlernen, implizite Äußerungsformen von Antisemitismus zu erkennen und damit verbundene Ambiguitäten auszuhalten. Kenntnisse über die verschiedenen Ausdrucksformen von Antisemitismus sind nur im Zusammenschluss mit entsprechenden Debatten- und Emotionsregulierungskompetenzen die entscheidenden Schritte zum Empowerment junger Menschen gegen Antisemitismus im Netz.
Das RESPOND!-Medienkompetenztraining: Fünf Prinzipien
Das RESPOND!-Medienkompetenztraining ist umfassend gestaltet und baut auf fünf grundlegenden Prinzipien auf (s. Abb. 1), die sich in der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit als besonders wichtig erwiesen und die wir in unserer Arbeit aufgenommen und erweitert haben.
1. Prozess: Im RESPOND!-Training vermitteln wir nicht nur Wissen über antisemitische Inhalte in sozialen Medien, sondern legen besonderen Wert auf das Verstehen und den Umgang mit diesen Inhalten. Antisemitische Diskurse lösen häufig Dissonanzen, Zweifel und Fragen aus. Dies liegt einerseits daran, dass sie oft subtil und nicht sofort als antisemitisch erkennbar sind, und andererseits daran, dass sie die Identitäten und Loyalitäten der Mediennutzer:innen direkt berühren. Unser Training fördert eine kritisch-konstruktive und selbstreflexive Auseinandersetzung mit Mediendiskursen und schafft einen geschützten Raum, in dem offen über Antisemitismus nachgedacht und gesprochen werden kann.
Beispielübung: Die Teilnehmenden sehen den preisgekrönten Kurzfilm „Masel Tov Cocktail“ , der das Leben eines jüdischen Teenagers im heutigen Deutschland eindrucksvoll beleuchtet. In Kleingruppen diskutieren sie die im Film thematisierten antisemitischen Diskurse und Vorurteile. Zum Abschluss werden zentrale Fakten und Zitate aus dem Film im Plenum reflektiert und vertieft.
2. Emotionen und Loyalitäten: Antisemitische Diskurse in den sozialen Medien lösen bei jungen Menschen oft komplexe und widersprüchliche Emotionen aus, insbesondere wenn es um israelbezogenen Antisemitismus geht. Häufig entsteht der Eindruck, man müsse sich auf eine Seite schlagen, was zu einer instinktiven und pauschalen Ablehnung der anderen Seite führt. Ein konstruktiver Umgang mit Antisemitismus erfordert jedoch, Gegensätze auszuhalten, Ambiguitäten zu tolerieren und sich vom Schwarz-Weiß-Denken antisemitischer Diskurse zu distanzieren. Dazu gehört die Bereitschaft, sich auch mit unangenehmen Emotionen auseinanderzusetzen und eigene Loyalitäten und Vorurteile kritisch zu hinterfragen.
Beispielübung: Die Teilnehmenden erleben zunächst die Ambiguität subtiler antisemitischer Internetbotschaften, um ein Bewusstsein für die Komplexität solcher Aussagen zu entwickeln. Daraufhin wird das Konzept der Ambiguitätstoleranz vertieft, unter anderem durch einen Podcast zu Else Frenkel-Brunswik, die den Begriff prägte und erforschte. Gemeinsam mit den Teilnehmenden werden typische Denkmuster und Emotionen, die mit Ambiguitätstoleranz verbunden sind, reflektiert.
3. Pluralität: Das RESPOND!-Training legt großen Wert auf die Integration vielfältiger Perspektiven und fördert ein tiefes Verständnis für die Komplexität antisemitischer Diskurse. Indem wir jüdische Stimmen aktiv einbeziehen, geben wir den Teilnehmenden die Möglichkeit, aus erster Hand zu erfahren, wie Antisemitismus erlebt wird und welche Auswirkungen er auf das Leben von Betroffenen hat. Gleichzeitig ermutigen wir die Teilnehmer:innen, sich mit unterschiedlichen Sichtweisen auseinanderzusetzen, selbst wenn diese kontrovers oder unbequem sind, um ein differenziertes Bild von den vielfältigen Realitäten zu gewinnen, die in antisemitischen Diskursen oft unterrepräsentiert sind.
Beispielübung: Die Teilnehmenden setzen sich mit zwei zentralen Konzepten der jüdischen Sozialethik auseinander: (1) Tikkun Olam – das Bestreben, die Welt zu verbessern, und (2) Machloket – die Kunst der konstruktiven Auseinandersetzung. Diese Themen werden durch ausgewählte Passagen aus Mirna Funks Buch „Von Juden lernen“ sowie mit einem Podcast-Interview mit der Autorin Funk vertieft. Die Materialien veranschaulichen eindrücklich, wie jüdische Denk- und Handlungsweisen im Umgang mit Hassrede wegweisend sein können.
4. Identität und Gemeinschaft: Unser Training fördert die Selbstreflexion und unterstützt sowohl individuelles als auch kollektives Handeln. Ziel ist es, eine positiv-wertschätzende Gemeinschaft zu schaffen, mit der sich die Teilnehmenden identifizieren und in der sie sich aufgehoben fühlen. Diese Gemeinschaft dient auch nach dem Training als nachhaltige Anlaufstelle für Unterstützung.
Beispielübung: Mithilfe eines Online-Meme-Generators können die Teilnehmenden das im Training erworbene Wissen und ihre neu gewonnenen Fähigkeiten praktisch anwenden, indem sie eigene kreative und reflektierte Social-Media-Beiträge zum Thema Antisemitismus entwickeln. Diese Übung bietet ihnen die erste Gelegenheit, konstruktiv auf Antisemitismus im Internet zu reagieren und diesen Hass gezielt als solchen zu entlarven. Die Übung verbindet sie gleichzeitig in ihrer kreativen Handlung und schafft eine kollektive Identität.
5. Die fünf Rs: Die 5 Rs des RESPOND!-Trainings bieten eine strukturierte Vorgehensweise gegen Hassrede im Netz (s. Abb. 2). Recognize (erkennen) hilft, antisemitische Muster zu identifizieren; Reflect fördert das Nachdenken über antisemitische Inhalte und das Akzeptieren von Ambiguität; Report (melden) leitet an, wie man Hassrede den Plattformen oder Behörden meldet; Repost (teilen) bedeutet, aktiv positive und aufklärende Inhalte über das Judentum und gegen Antisemitismus zu verbreiten (beispielsweise anhand von Dekonstruktion; s. unten) und Retell (erzählen) ermutigt dazu, das im Training erworbene Wissen im eigenen Umfeld zu teilen, über Antisemitismus aufzuklären und die RESPOND-Community zu nutzen, um gemeinsam gegen Hass vorzugehen.
Beispielübung REPOST: Durch die Dekonstruktion realer antisemitischer Posts in den sozialen Medien lernen die Teilnehmenden, die verschiedenen Elemente von Hassbotschaften differenziert zu analysieren. Dabei entschlüsseln sie Stereotype und rhetorische Mittel, die Antisemitismus am Leben halten, und reflektieren diese gezielt. Sie lernen außerdem, dekonstruierte Botschaften im Internet gezielt zu reposten, um sie öffentlich als antisemitisch kenntlich zu machen und so aktiv gegen Hassrede im Internet vorzugehen.
Eine effektive Bekämpfung des Antisemitismus im Internet erfordert neben Medienkompetenz auch Selbstreflexion und offene Dialoge. Das Projekt
RESPOND! fokussiert auf die Entwicklung von Trainings, die jungen Menschen helfen, antisemitische Inhalte zu erkennen und kritisch-konstruktiv damit umzugehen. Die Erkenntnisse aus unseren Studien verdeutlichen, dass nur durch gezielte Reflexion und das Aushalten von Ambiguitäten antisemitischen Diskursen effektiv entgegengetreten werden kann. Selbstreflexion ist daher der Schlüssel zu einem respektvollen und inklusiven Umgang mit antisemitischen Äußerungen im Netz.
Eine kürzere Fassung dieses Beitrags ist als Blogeintrag in der Denkfabrik Shalom Aleikum beim Zentralrat der Juden (https://www.denkfabrik-schalom-aleikum.de/blog/) erschienen.
Literatur
Anti-Defamation League 2023: Audit of Antisemitic Incidents 2022 | ADL. [online] www.adl.org. Verfügbar unter: https://www.adl.org/resources/report/audit-antisemitic-incidents-2022 [letzter Zugriff: 27.09.2024]
Becker, Matthias 2021: Antisemitism in Reader Comments: Analogies for Reckoning with the Past. Cham.
Chernivsky, Marina/Lorenz-Sinai, Friederike 2023: Antisemitismus im Kontext Schule. Deutungen und Praktiken von Lehrkräften. Weinheim.
Funk, Mirna 2024: Von Juden lernen. München.
Hübscher, Monika/von Mering, Sabine 2022: Antisemitism on Social Media. New York.
Khaet, Arkadij/Paatzsch, Mickey 2020: Mazel Tov Cocktail [Kurzspielfilm] Deutschland.
Rensmann, Lars 2015: Zion als Chiffre. Modernisierter Antisemitismus in aktuellen Diskursen der deutschen politischen Öffentlichkeit. In: Schwarz-Friesel, Monika (Hg.): Gebildeter Antisemitismus. Eine Herausforderung für Politik und Zivilgesellschaft. Baden-Baden, S. 93–116.
Rose, Hannah/Guhl, Jakob/Comerford, Milo 2023: Rise in antisemitism on both mainstream and fringe social media platforms following Hamas’ terrorist attack. [online] ISD; https://www.isdglobal.org/digital_dispatches/rise-in-antisemitism-on-both-mainstream-and-fringe-social-media-platforms-following-hamas-terrorist-attack/ [27.09.2024]
Schwarz-Friesel, Monika 2019: Judenhass im Internet: Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl. Berlin/Leipzig.